Wednesday 12 May 2021

Die Natur auf der Flucht

"Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbär trifft – Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt" lautet der überaus ausführliche Untertitel, der damit so recht eigentlich zusammenfasst, was in diesem anregenden und informativen Werk zur Sprache gebracht wird. Autor Benjamin von Brackel, Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München, beschäftigt sich darin mit dem Phänomen, dass auch Tiere und Pflanzen wegen der steigenden Temperaturen ihren angestammten Lebensraum verlassen.

"Wie konnte es sein, dass sich gerade eine massive Umverteilung des Lebens auf der Erde abspielt wie seit Zehntausenden von Jahren nicht mehr – und keiner weiss davon? Jedenfalls abgesehen von den Biologen, die dazu forschen?" Benjamin von Brackel, der seit 2012 über den Klimawandel schreibt und bis vor vier Jahren selber nichts davon mitbekommen hat, begibt sich auf Spurensuche.

Die Erderwärmung hat zur Folge, dass sich der Lebensraum der Tiere verändert. So nehmen etwa in der Arktis die Biberpopulationen zu, die Flüsse und ganze Landstriche überfluten, und entziehen damit dem Polarfuchs die Lebensgrundlage. Und es überschneiden sich die Lebensräume, was unter anderem zu Cappuccino-Bären führt, Hybriden aus der Paarung von Eis- und Grizzlybären.

Dazu kommt, dass vielen indigenen Gemeinschaften die Lebensgrundlage entzogen wird, wenn auf einmal die Grönlandwale oder Lachse ausbleiben. Das grösste Problem für diese traditionellen Jäger, die Meister der Anpassung sind, so Benjamin von Brackel, ist jedoch der moderne Mensch mit seiner Massenindustrie.

Er berichtet von Baumarten, die wandern. Und von mitwandernden Insekten, die in und von ihnen leben. So sehr uns die Corona-Pandemie zu Bewusstsein gebracht hat, wie rücksichtslos wir in den Refugien von Tieren und Pflanzen unterwegs sind, wir müssen überdies zu Kenntnis nehmen, dass der Klimawandel den Spiess umdreht: "Nicht mehr wir kommen zur Wildnis, sondern die Wildnis kommt zu uns." 

Der Volksmund kennt den Spruch: Gelegenheit macht Diebe. Und genau wie Diebe verfahren auch die Mücken, Zecken und Raupen, die neuerdings bei uns einfallen  "sie nutzen ganz einfach alle Möglichkeiten, die Klimawandel und Globalisierung ihnen bieten."

Dass Biologen bei Politikern auf taube Ohren stossen, wenn sie ihnen von der Wanderung der Arten erzählen, erstaunt wenig, macht aber andererseits (wieder einmal) deutlich, dass der Mensch schlecht beraten ist, wenn er sich von der Politik anderes erwartet als die Durchsetzung von kurzsichtigen Eigeninteressen.

Ich lese Die Natur auf der Flucht auch als Einladung, mich in die Schuhe eines anderen zu versetzen. Etwa in die von Pierre Rasmont, des "Hummelpapstes Europas", der im aussergewöhnlich heissen Sommer 2003, als in Paris so viele Menschen starben, dass ein Kühllager für Lebensmittel zur Leichenhalle umfunktioniert werden musste, in den Pyrenäen und im finnischen Kevo, einem Hummel-Eldorado, nur noch einen Bruchteil der üblichen Insektenmenge vorfand.

Die Natur auf der Flucht ist ein journalistisches Buch und das meint in diesem Fall, dem Storytelling und dem Personalisieren verpflichtet, was teilweise etwas komische Züge annimmt. "Unter der Dusche erinnerte sich Peters an einen Science-Artikel, der ihm in die Hände gefallen war." Doch diese Herangehensweise hat Vorteile: Der Text ist anschaulich, liest sich leicht und ist informativ. 

Benjamin von Brackel
Die Natur auf der Flucht
Wilhelm Heyne Verlag, München 2021

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