Wir schauen zwar gelegentlich zu den Sternen hoch, doch Gedanken zu dem, was sich unter uns, im Boden befindet, machen wir uns selten bis gar nicht. Zugegeben, ich rede von mir. Einer, der sich darüber nicht nur Gedenken macht, sondern die Welt unter der Erde erkundet, ist Robert MacFarlane. Doch er tut dies nicht allein, sondern wird angeleitet. Etwa von seinem Freund Sean, der Imker, Höhlenkletterer, Wanderer und Dichter ist. Mit ihm will er die Mendip Hills, eine Hügellandschaft südlich von Bristol und westlich von Bath erkunden. "Ich bin in die Mendip Hills gekommen, um zu lernen, wie man im Dunklen sieht."
Robert MacFarlane berichtet jedoch nicht nur von seinen eigenen Entdeckungsreisen, sondern auch von denen anderer. Etwa von der schlimmsten Episode der britischen Höhlenkletterei, die sich am 22. März 1959 ereignete, als der zwanzigjährige Philosophiestudent Neil Moss aus Oxford in einem engen Schacht steckenblieb. Oder von den Untersuchungen der kanadischen Forstökologin Suzanne Simard, die herausfand, dass es ein unterirdisches Netzwerk von Pilzen und Pflanzen gibt, auch "wood wide web" oder "Internet der Bäume" genannt.
Doch wie funktioniert dieses Internet der Bäume? Nach den Gesetzen des 'freien Marktes', also angetrieben von Konkurrenz, oder eher nach dem Prinzip des gegenseitigen Helfens und Unterstützens? "Ich habe beide Erzählungen satt", sagt Merlin, als wir den See verlassen. "Der Wald ist viel komplizierter, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen ausmalen. Bäume produzieren nicht nur Sauerstoff, sondern auch Bedeutung. Wenn ich durch den Wald gehe, fühle ich mich wie eine winzige Figur in einem Mysterienspiel, das auf mehreren zeitlichen Ebenen stattfindet."
Unser Verhältnis zur Natur ist auch von der Sprache geprägt. In Potawatomi, einer Indianersprache aus den Great Plains geht die Kategorie des 'Lebendigen' weit über die üblichen Grenzen des westlichen Denkens hinaus. "Auf Potawatomi sind nicht nur Menschen, Tiere und Bäume lebendig, sondern auch Berge, Steine, Wind und Feuer."
Robert MacFarlane ist von einer schier unerschöpflichen Neugier geleitet und bringt viel Überraschendes zutage. So berichtet er etwa von dem Mann, der auf der Anatolischen Hochebene in eine unterirdische Stadt gestolpert war. Oder von der Einlagerung der Gebeine in den Katakomben von Paris. Oder dass, als die Deutschen Odessa während des Zweiten Weltkrieges einkesselten, ukrainische Partisanengruppen in den Katakomben zurückblieben und von dort aus Angriffe starteten. Oder dass jede Stadt ihre unsichtbare Stadt hat – Tunnels, Rolltreppen, Keller, Schächte, Erdkabel etc.
Immer mal wieder staune ich, was es so alles gibt. Etwa die Subkultur des Urban Exploring, das der Autor als "einen abenteuerlichen Vorstoss in die bebaute Umgebung" beschreibt. Dafür braucht man unter anderem "Schwindelfreiheit, Freude an Verfallenem und Altem, eine Faszination für Infrastruktur, die Bereitschaft über Zäune zu klettern und Gullydeckel anzuheben" und und und. Diese Subkultur hat übrigens wiederum Subkulturen mit zahlreichen Spezialgebieten wie Bunkerologen, Gerüst- und Gebäudekletterer, Gleisläufer oder 'Kanalratten'" hervorgebracht.
Doch Robert MacFarlane präsentiert nicht einfach eine ziemlich exotische Gruppe von Leuten, die aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten stammen, unzufrieden und wenig folgsam unterwegs sind, er erzählt, neben seiner Faszination, auch von den unguten Gefühlen, die einige Aspekte ihres Tuns bei ihm auslösen.
In Italiens Nordosten, im slowenischen Hochland, in Norwegen und Grönland ist er unterwegs. Und in Bibliotheken. Was er mit Walter Benjamins Passagen-Werk erlebt, beschreibt so recht eigentlich die Erfahrung, die er mit der Welt unter der Erde macht. "Es hat keine Handlung im herkömmlichen Sinn, sondern Muster, Echos, Erinnerungsgeister und ineinander verwobene Subtexte. Beim Lesen fühlt man sich körperlos, knochenlos –¨imstande, die Zeit durch seine versteckten Katzenklappen, seine geheimen Durchgänge zu durchqueren."
Was mich ganz besonders für Im Unterland einnimmt, ist die persönliche und ausführliche Charakterisierung der Personen, mit denen Robert MacFarlane zu tun hat, denn dadurch erhält man eine Vorstellung davon, wer ihm die Informationen vermittelt, die er präsentiert. Gleichzeitig macht er damit deutlich, wie individuell verschieden die Weltwahrnehmung ist. Und genau dies macht sie spannend.
Dieses Buch ist ein veritabler Augenöffner. Es zeigt mir Welten, derer ich mir nicht bewusst war, es macht mich aufmerksam auf eine Realität, die ich bislang gar nicht zur Kenntnis genommen habe. Im Unterland ist ein überaus faszinierendes Aufklärungsbuch, das uns wieder einmal deutlich macht, dass die Wirklichkeit um einiges spannender ist als unsere gängige Medienwelt uns weismachen will.
Robert MacFarlane
Im Unterland
Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde
Penguin Verlag, München 2021
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