Den Bezug, den man zu einem Buch hat, ist stets ein persönlicher. Mein Interesse an dem vorliegenden Band gründet sich einerseits in den genialen Piktogrammen (man verweile einmal etwas länger als üblich bei diesem wunderbar gelungenen Umschlagsbild), und andererseits im Untertitel Designer. Typograf. Denker., wobei mich speziell die Reihenfolge anspricht, denn das bewusste Denken folgt, jedenfalls gemäss der modernen Hirnforschung, dem Handeln nach. Daraus zu folgern, dass bewusstes Denken nichts anderes als Rationalisieren sei, wäre jedoch zu kurz gedacht, denn die bewusste Reflexion ist durchaus imstande unser Handeln zu beeinflussen, auch wenn das weit weniger oft vorkommt als wir gemeinhin annehmen.
Meine Beschäftigung mit diesem Werk hat mir vor allem gezeigt, dass ich nicht zum Zielpublikum gehöre, denn mir fehlt der erforderliche Hintergrund sowohl im Design wie auch in der Typografie. Und was das Denken anlangt, so lese ich, Otl Aicher sei von Wittgenstein beeinflusst gewesen. Dieser argumentierte nicht nur, dass worüber man nicht sprechen könne, man schweigen müsse, sondern legte auch Wert auf die Unterscheidung von Sagen und Zeigen. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Auch Wilhelm von Ockham, dessen Rasiermesserprinzip besagt, sich, vor die Auswahl einer unter mehreren unterschiedlich komplexen Hypothesen gestellt, für die Prüfung der einfachsten zu entscheiden, gehörte offenbar zu Aichers Einflüssen.
Ich blättere, bleibe bei einzelnen Bildern hängen, dann bei Textabschnitten, die auf prägende Einflüsse hinweisen, einordnen und bewerten. Ich kann da nur mit Wittgenstein sagen: „Es gibt Probleme, an die ich nie herankomme, die nicht in meiner Linie oder in meiner Welt liegen.“ Aichers visuelle Umsetzungen hingegen, etwa das visuelle Erscheinungsbild der Stadt Isny im Allgäu, faszinieren mich. Und genauso, dass er offenbar nicht zwischen Leben und Arbeiten unterschied sowie „ein äusserst integrer Mensch mit einem starken moralischen Kern“ war.
Zahlreiche Autoren haben zu diesem Band beigetragen. Sie äussern sich ausführlich und kenntnisreich über den Denker, den Lehrer, den Designer sowie über Olympia 1972. Ein Kapitel ist mit "Architekt. Fotograf. Typograf." überschrieben, ein weiteres handelt von den sehr berührenden Erinnerungen Norman Fosters an seinen Freund. "Er eröffnete neue Wege und ermutigte uns, unsere eigenen zu finden."
Von Norman Foster erfahre ich auch, dass er einen Monat vor Aichers Tod auf einmal das Bedürfnis hatte, ihn anzurufen. "Zu meiner Überraschung – er war häufig auf Reisen – war er zu Hause. 'Norman', sagte er, ' ich habe dich in Compton Bassett angerufen. Du gehst nie ans Telefon, ich wollte einfach nur deine Stimme hören.'" Foster steigt in den Flieger, sie treffen sich noch am selben Abend.
Wie erwähnt, fühle ich mich besonders von den Piktogrammen angezogen, denn darin manifestiert sich der Denker höchst überzeugend. Ein Piktogramm zu gestalten, bedeutet, eine Information auf das Wesentliche zu reduzieren. Das Individuelle hat dem Allgemein Verständlichen zu weichen. Piktogramme funktionieren Kultur-übergreifend und tragen weit mehr zur Verständigung bei als die üblichen Sonntagsreden.
Im Gegensatz zur Malerei, bei der der Maler aus dem Nichts ein Bild erschafft, ist das Bild bei der Fotografie bereits vorhanden und entsteht durch das Einrahmen des Fotografen. Fotografieren bedeutet hauptsächlich sehen. Otl Aicher hat "das gute Auge", was sich unter anderem darin ausdrückt, dass er die Ordnung in der Natur wahrnimmt. Eugen Gomringer kommentierte Aichlers Winterlandschaften so: "Die Landschaft, die so vermittelt wird, ist weder romantisch aufgemacht noch intellektualistisch verneint, sondern als Gewebe erkannt." Intellektualistisch verneint? Was für ein aufgeblasener Quatsch. Wie bei Bildern generell (und so recht eigentlich bei Allem, was uns unsere Augen präsentieren), so gilt auch hier: Just look and see.
Otl Aicher
Designer. Typograf. Denker.
Herausgegeben von Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl
in Zusammenarbeit mit Fritz Frenkler, Hannes Gumpp,
Hans Hermann Wetcke und der Technischen Universität München (TUM)
Prestel, München°London°New York 2022
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