Autor Kolja Reichert, geboren 1982, ist seit 2021 Programmkurator für Diskurs (nirgendwo ist der Mensch kreativer als in der Erfindung von Berufen) an der Bundeskunsthalle Bonn. Mit diesem Buch hat er sich einiges vorgenommen, denn er will, so der Verlag, "die Kunst von den Prätentionen und Missverständnissen befreien, die uns den Zugang zu ihr verbauen." Zudem habe er ein Buch für alle geschrieben, die sich von der Kunst ausgeschlossen fühlen. "Und für alle, die vergessen haben, warum sie bei ihr mitmachen." Mit anderen Worten: Ich gehöre nicht zum Zielpublikum, ich bin einfach nur neugierig, ganz allgemein. Zudem bin ich voreingenommen: Ich halte die meiste Kunst für bestenfalls einen guten Einfall. Und die meisten Künstler, ob Frau oder Mann, für eitle Wichtigtuer.
Kolja Reichert, das merkt man schon nach den ersten paar Seiten, ist ein Kunstbegeisterter, der gut zu schreiben versteht, und dem die Auseinandersetzung mit Kunst zu mehr "Wachheit und Ausgeglichenheit im eigenen Leben" verholfen hat. Wunderbar, kann ich da nur sagen, auch wenn jede ernsthafte Auseinandersetzung mit irgendetwas vermutlich zum selben Ergebnis führen wird.
Nichtsdestotrotz, im Falles des Autors war es die Kunst, und über diese weiss er nicht nur viel Anregendes zu sagen, für die lebt er so recht eigentlich – sein Enthusiasmus und sein Engagement sind fast mit Händen zu greifen. "Je mehr Kunst ich gesehen habe, desto reicher wurde auch die Welt um mich herum." Ich kenne dieses Gefühl, ich verspürte es, als ich die Fotografie entdeckte. Und den Journalismus. Und das Interkulturelle. Und die Linguistik. Eigentlich immer, wenn ich (meist nicht für lange) für etwas brannte. Kolja Reichert, so kommt es mir vor, brennt für die Kunst.
Einigermassen verblüffend ist es ja schon: In vielen Bereichen der Gesellschaft werden Experten respektiert. Man denke an Corona oder Atomkraftwerke oder die Luftfahrtindustrie. Im Bereich der Kunst ist das nicht so, da vertraut jeder auf sein eigenes Gefühl. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass es keine Instanz gibt, die verbindlich festlegen könnte, was Kunst ist. Doch es gibt Experten; ihre Aufgabe sei es, Kriterien zu formulieren, an denen die Kunst gemessen werden kann, so Autor Reichert.
"Wir glauben, erst wenn ein Kunstwerk etwas bedeutet, ist es ein gutes Kunstwerk. Ich denke, es ist umgekehrt: Wenn es klar und deutlich etwas bedeutet, ist es kein gutes Werk", lese ich. Stimmt das, stimmt das nicht? Keine Ahnung. Doch es deutet die Richtung an: Kunst ist etwas, wofür man sich Zeit nehmen, auf das man sich einlassen muss. Reagiert man darauf bewegt oder erstaunt oder ergriffen, wäre das ein Hinweis darauf, dass es sich um Kunst handeln könnte.
Das leuchtet mir ein. Und erinnert mich an Robert M. Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, worin er versucht, Qualität zu definieren. Doch so sehr er sich auch bemüht, es geht nicht, sie lässt sich gedanklich/sprachlich nicht fassen. Was hingegen funktioniert: Man kann sie spüren. Dazu braucht es kein Vorwissen, nur Bereitschaft ist erforderlich. The readiness is all, sagt Horatio in Hamlet.
"Wie erkennt man ein Kunstwerk?" gehört für mich zu den lustigsten der 50 Beiträge, denn man lernt dabei, das alles, wirklich alles zur Kunst erklärt werden kann. Die Vorstellungskraft des Menschen kennt bekanntlich keine Grenzen. Der Glaube ebenso wenig. Für mich gilt: Wie jeder Gaube sollte auch der Glaube an die Kunst nicht allzu ernst genommen werden.
Kann ich das auch? ist sowohl erfrischend als auch ärgerlich. Erfrischend, weil Kolja Reichert die Fragen stellt, die wohl viele stellen und sie eigenständig beantwortet; ärgerlich, weil er meines Erachtens der Kunst und ihren Machern (Frauen sind mitgemeint) eigenartig devot begegnet – so glaubt er etwa, er müsse zuerst die Sprache der Kunst lernen, um sich mit Künstlern austauschen zu können. Eine eigene Sprache und die damit verbundene Art zu denken, ist ein bewährtes Mittel, Nicht-Initiierte draussen zu halten und seine privilegierte Stellung zu sichern. Viel Substanz steckt meist nicht dahinter.
50 Fragen an die Kunst, so der Untertitel, lädt ein zum Selber-Denken. Ich jedenfalls habe oft gestutzt und mich gefragt, ob der Autor seine apodiktisch formulierten Verallgemeinerungen wirklich ernst meint. "... alles, was wir tun, beruht auf Gewohnheiten, die Menschen über Generationen ausgebildet haben. Kunstwerke brechen aus diesen Gewohnheiten aus." Nein, nicht alles (nur fast alles), was wir tun, beruht auf Gewohnheiten. Auch brechen Kunstwerke nicht notwendigerweise aus diesen Gewohnheiten aus. Trotzdem ist der Grundgedanke, dass uns Kunstwerke aus unseren Gewohnheiten reissen können, richtig. Das tut allerdings auch ein Sprung ins kalte Wasser.
Nicht wenige der Fragen sind eigentlich keine ("Warum kann nicht alles sofort verständlich sein?", "Kann man über Kunst sprechen?") und wohl eher der Tatsache geschuldet, dass es 50 Fragen werden sollten. Zudem sind einige etwas gar weit hergeholt: "Was ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Menschen?", "Was ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Autor?" Der rote Faden dabei ist der Autor und seine Neugier – das genügt meines Erachtens vollkommen.
Besonders aufschlussreich empfand ich die Ausführungen zu "Wie gross ist die Kunstwelt?", wo ich auch lernte, dass man erst vom Ende des 18. Jahrhundert an, also während der Aufklärung, Kunst als Begriff verwendete. "Vorher gab es Architektur, Malerei, Bildhauerei, Musik und Literatur, und sie alle galten als Handwerk. Jetzt entwickelte sich eine Vorstellung davon, was sie vom Handwerk unterschied und was sie der Gesellschaft brachten, Freiheit zum Beispiel. Mit dem Bürgertum, das sich seine eigenen Geschmacksurteile bildete, entstanden Theorien der Ästhetik, und der Kunstmarkt, der im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden war, blühte."
Was dieses Buch lesenswert macht, ist Kolja Reicherts engagierte Art und Weise sich mit Kunst und was gemeinhin dazu gehört, auseinanderzusetzen. Dabei deutlich geworden ist für mich vor allem, dass Kunst nicht wirklich zu fassen ist. Einschlägiges Wissen kann die Wertschätzung steigern, wie man am Beispiel des Autors gut erkennen kann, doch scheint es auch eine Ebene zu geben, auf der man intuitiv spürt, dass man es mit etwas ganz Besonderem zu tun hat. Siehe auch hier.
Fazit: Vielfältig anregende, hilfreiche Aufklärung.
Kolja Reichert
Kann ich das auch?
50 Fragen an die Kunst
Klett-Cotta, Stuttgart 2022
No comments:
Post a Comment