Es gibt wenige, die über Fotografie schreiben und die ich schätze. John Berger gehört dazu. Vor Jahren, bei einer IKRK-Ausstellung in Zürich, kam ich auch mit dem Fotografen Jean Mohr ins Gespräch, der oft mit Berger zusammengearbeitet hat, und war beeindruckt von diesem gänzlich unprätentiösen Mann. Mohrs Porträt von Berger in diesem Band ist überaus gelungen und und zeigt mir ihn ganz anders, als ich ihn aus Dokumentationen kenne. Geheimnisvoll, eine Figur aus einem französischen Film.
Dem Band ist ein ganz wunderbares und erfreulich persönliches Vorwort von Birgitta Ashoff beigegeben. "Niemals zuvor ist mir klargeworden, dass das erste thematische Objekt und die erste Metapher für die Malerei das Tier war, dass Tierblut als erste Farbe diente (...) Nie mehr werde ich unbefangen über die Jura-Autobahnen brausen, ohne an Courbets 'Gegend' zu denken, die die entscheidende Rolle bei der Herausbildung seiner Sehweise gespielt hat."
Bei mir haben Bergers Texte Ähnliches ausgelöst. Seit ich in seinem Ways of Seeing auf seinen Kommentar zu van Goghs Kornfeld, von dem Vögel auffliegen, gestossen bin – das Bild befindet sich unten an der Seite, man betrachtet es, wird dann vom Autor aufgefordert, umzublättern und liest, die sei van Goghs letztes Werk gewesen, bevor er Selbstmord verübte – , weiss ich um die zentrale Rolle der Informationen zum Bild. Es sind die Bildlegenden bzw. unser Vorwissen, die unsere Bildwahrnehmung leiten.
Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens versammelt Essays über Millet, La Tour, Francis Bacon und Walt Disney, Courbet, Turner, Rouault, Frans Hals sowie den Isenheimer Altar in Colmar. Nur zwei der Texte handeln von der Fotografie, der mein spezielles Interesse gilt: August Sanders Aufnahmen von Männern im Anzug sowie Cartier-Bressons Foto von Alberto Giacometti im Regen.
Ich staune, was John Berger zum Thema 'Der Anzug und die Photographie' alles einfällt. Die erste Aufnahme zeigt drei Jungbauern auf dem Weg zum Tanz (1914), die zweite eine Bauernkapelle (1913), die dritte vier Stadtmissionare (1931). Er schlägt ein Experiment vor. "Man decke die Gesichter der Musikgruppe mit einem Stück Papier ab und betrachte nur ihre bekleideten Körper." In der Folge macht er das umgekehrte Experiment. "Man bedecke die Körper der Musikanten und sehe nur ihre Gesichter an."
Berger folgert: Mit dem Tragen des Anzugs akzeptierten die Bauern "die Normen des Chic und des Gutangezogenseins." Dass sie sich diesen Normen beugten, die mit ihrem eigenen Erbe und ihrer täglichen Erfahrung nichts zu tun hatte, bedeute nichts anderes, als dass sie sich der kulturellen Vorherrschaft der ihnen übergeordneten Klasse unterwarfen. Was man von Berger, der in einem Bergdorf in Savoyen wohnte, nicht sagen konnte. "Bei unserer ersten Begegnung – am Genfer Flughafen zwischen den Attaché-Köfferchen der anderen fanden sich Spuren von Acker. Lehm und Kuhmist an seinen braunen Manchesterhosen", so Birgitta Ashoff in ihrer Einleitung.
Apropos Anzug: Was ich ganz besonders faszinierend fand (wohl auch, weil ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht habe), war dies: "Der Anzug war im wesentlichen für die Gesten des Sprechens und des abstrakten Kalkulierens gemach. (Im Unterschied zu früheren Oberklassen-Kostümen, die den Gesten des Reitens, Jagens, Tanzens und Fechtens entsprachen.)"
"Der Akt des Sehens war für ihn eine Art Gebet – eine Möglichkeit, sich einem Absolutum zu nähern, ohne es freilich je greifen zu können", charakterisiert er Alberto Giacometti. Und beschreibt damit so recht eigentlich auch sich selber. Das Temperament eines Menschen zeigt sich in seinem Gesicht. Bei Giacometti (und auch bei Beckett) sieht er: "Ein Durchhaltevermögen, erhellt durch List. Wäre der Mensch nur Tier und nicht ein soziales Wesen, dann hätten alle alten Männer diesen Gesichtsausdruck."
John Bergers Essays machen unter anderem das gesellschaftliche Umfeld und die Absichten deutlich, die für 'unser' Kulturverständnis leitend sind. So hält er in seinem Beitrag über Rodin fest: "Der Jubiläumskult ist zur schmerzlosen und oberflächlichen Information einer 'kulturellen Elite' da, die aus konsumwirtschaftlichen Gründen ständig erweitert werden muss. Dabei wird Geschichte konsumiert – und nicht verstanden."
Solcher Sätze wegen lese ich Bücher (und das vorliegende ist voll davon), denn sie machen mich die Welt neu und anders sehen. John Berger ist ein freier Geist, unterwegs abseits der Institutionen. Das ist selten. Und in seinem Falle ein Glück. Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens ist ein überaus erhellendes Werk der Aufklärung.
John Berger
Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022
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