Wednesday 2 November 2022

Jimmy Chin: Bilder aus einer Welt der Extreme

"Fotos bringen uns augenblicklich an jeden Ort der Welt. Ein Sekundenbruchteil nach dem Fotografieren wird ein zweidimensionales Bild zum Zeitstempel dieses Moments. Die Art und Weise, wie ein Fotograf mit den uns allen zur Verfügung stehenden Mitteln Kunst schafft, unterscheidet das Aussergewöhnliche vom Alltäglichen", schreibt der Bergsteiger Conrad Anker im Vorwort, das zutreffend beschreibt, mit was für einer Mentalität Extrembergsteiger unterwegs sind, das allerdings auch vollkommen verkennt, was die Fotografie ausmacht, denn erstens macht nicht jeder Fotograf Kunst, und zweitens geht es in der Fotografie darum (jedenfalls in meinem Verständnis), das Aussergewöhnliche im Alltäglichen sichtbar zu machen.

"Meine Eltern sagten immer", so der Kletterer Jimmy Chin in seiner Einführung, "Klar sorgen wir uns. Das Chinesische kennt kein Wort für das, was du tust." Doch davon lässt sich der überaus ambitionierte junge Mann nicht abhalten –  und bringt es zum Oscar-gekrönten Filmemacher und National Geographic-Fotograf. "Seit über zwanzig Jahren arbeitet er mit den bedeutendsten Abenteuersportlern und Entdeckern der Welt zusammen." Abenteuersportler? Des Menschen Kreativität in Sachen "Schau mal, wie speziell ich bin!" ist wahrlich grenzenlos.

Alles an diesem Buch ist Superlativ! Ich verzichte auf die Aufzählung, es steht alles im Buch. Mir selber ist schleierhaft, was diesen Mann (und seinesgleichen, er ist ja nicht der Einzige) antreibt, doch da dies ein Bildband ist, will ich mich mit den Bildern beschäftigen. Das überaus eindrückliche Cover-Bild findet sich auch im Buch, da allerdings auf zwei Seiten, was die Aufnahme noch um einiges imposanter wirken lässt. Die Bildlegende lautet: "Vierundzwanzig Stunden Licht sorgten für endlose Tage. Conrad auf dem Weg zu unserem Hochlager an einem weiteren langen Tag in der Antarktis."

Der Titel Bilder aus einer Welt der Extreme beschreibt ausgezeichnet, wovon dieser kunstvoll gestaltete Band handelt, der Bilder von Orten zeigt, von denen ich noch nie gehört habe. Vom Charakusagebiet in Pakistan, zum Beispiel. Oder von den Chanthang-Hochlands in Nordwesttibet, dem höchsten und abgelegensten Wüstenplateau der Welt. Oder von den Tetons, die ich allerdings googlen musste, um zu erfahren, dass es sich um eine Bergkette in den Rocky Mountains handelt.

 Viele der Aufnahmen sind überaus gelungen und machen unter anderem deutlich, wie klein und unbedeutend der Mensch angesichts der gewaltigen Natur ist. Es ist jedoch der Text (nicht die Bildlegenden, die sind wenig ergiebig), der diese Fotos begleitet, der sie mich noch einmal anders sehen lässt. Etwa die Schilderung von Jimmy Chins Mount Everest-Besteigung, zusammen mit dem Snowborder Stephen Koch, die an Dramatik kaum zu überbieten ist.

"Mehr als einen Monat lang studierten wir Wetter- und Lawinenbedingungen in der Wand, dann wagten wir den ersten Versuch. Wir seilten uns im Dunklen an, um die riesigen Gletscherfelder unterhalb der Wand zu durchsteigen. Um 1 Uhr nachts hielten wir zum Essen und Trinken an. In der Ferne hörte ich  ein winziges 'Knacken', gefolgt von leichtem Grollen, das immer stärker wurde, bis die Erde bebte. Stephen liess sich auf den Bauch fallen, rammte seine Axt ins Eis und hoffte, die gewaltige Lawine zu überleben, die aus der Dunkelheit herabstürzte. Ich stand nur da, die Arme ausgestreckt, den Tod vor Augen." 

Einer Leidenschaft zu frönen, verändert die Sicht auf die Welt. Jimmy Chins Leidenschaft für die Berge führt ihn in Weltgegenden, mit denen ich so ziemlich gar nichts verbinde, weil ich nichts über sie weiss, weswegen ich denn auch nicht schlecht staune, dass man sich zum Klettern in die Republik Tschad aufmachen kann. "Das Ennedi-Massiv sieht aus wie eine grössere, spektakulärere Version des Monument Valley in Arizona und Utah, mit gewaltigen Türmen, Bögen und Schluchten in einem riesigen Sandsteinkomplex. Allerdings herrschen hier in der 'kühlen' Jahreszeit um die 45 °C. Im Sommer können die Temperaturen auf 60 °C klettern."

Doch wann wird aus der Leidenschaft eine Obsession, ein Sich-Beweisen-Müssen um jeden Preis? Keine Ahnung, doch was Jimmy Chin und seine Bergsteigerfreunde sich zumuten, lässt mich einigermassen ratlos zurück. Seine Lebensphilosophie verlangt es offenbar, sich Extremsituationen auszusetzen. "In der Wüste fühle ich mich heimisch. Ich mag es, dass dort nur die widerstandsfähigsten Pflanzen, Tiere und Menschen überleben."

Bilder aus einer Welt der Extreme ist ein im wörtlichen Sinne Horizont-erweiterndes Werk.

Jimmy Chin
Bilder aus einer Welt der Extreme
Prestel,  München°London°New York 2022

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