Wednesday 6 November 2024

Tokio Express

In der Bucht von Hakata werden die Leichen eines jungen Paares aus Tokio gefunden. Alles deutet auf einen Doppelselbstmord hin. Doch dann stösst Kommissar Torigai auf Ungereimtheiten. 

Autor Seichō Matsumoto, laut der Londoner Sunday Times "die japanische Antwort auf Agatha Christi", bedient sich einer einfachen und präzisen Sprache, die eine wunderbar nüchterne Atmosphäre kreiert, der etwas Magisches anhaftet. Kein Schnickschnack, keine Poesie, keine Bedeutungshuberei, sondern Klarheit. Dazu kommt ein erfreulich illusionsloser Blick auf die Welt. "Natürlich ist das absurd (dass ein Beamter wegen Fehlverhaltens befördert wird), aber Behörden sind absurde Orte."

Kommissar Torigai ahnt nicht etwa, dass etwas nicht so richtig stimmt, sondern stellt sich Fragen, die sich auf Lebenserfahrung gründen, die er dann beim Befragen seiner eigenen Tochter überprüft. Der Mann ist von Sachlichkeit geleitet und nicht etwa von einem sechsten Sinn.

Die junge Frau war geschieden und arbeitete als Serviererin, ihr Liebhaber war in einem Ministerium angestellt, das wegen Korruptionsvorwürfen in die Schlagzeilen geraten war. Doch wie kam es, dass die beiden die fünf Tage vor ihrem gemeinsamen Tod nicht gemeinsam verbracht hatten? Waren sie überhaupt ein Liebespaar gewesen?

Kommissar Kiichi Mihara von der Kriminalabteilung 11 der Polizei Tokio, die sich mit Wirtschaftskriminalität befasst, interessiert sich auch für den Doppelselbstmord. Torigai und Mihara tauschen sich über den Fall aus, wobei ihnen, da beide genuin neugierig und der Sache verpflichtet sind, bisher Nicht-Beachtetes auffällt. Die Herausforderung liegt im genauen Hinsehen, die Schlüsse daraus ergeben sich dann fast von selbst.

Genaues Hinsehen, und das macht Tokio Express deutlich, besteht darin, sich seiner eigenen Voreingenommenheit bewusst zu werden und alsdann entsprechend neutral die Dinge anzugehen. Dabei muss das Augenmerk den kleinen Dingen gelten. Wie sagen doch die Zen Buddhisten so treffend: Es gibt nur kleine Dinge.

Es ist diese schlanke Sprache, bar jeder Effekthascherei, die einerseits diesen Kriminalroman auszeichnet, und andererseits darüber hinausgeht, da sie grundsätzliche Stimmungen von universeller Bedeutung zu vermitteln weiss. "Unter den Leuten im Café erkannte er ein paar bekannte Gesichter. Alles war wie sonst, das Leben war weitergegangen wie immer, auch auf der Ginza dort draussen hinter der Scheibe. Nur er, Mihara, fühlte sich, als wäre er fünf oder sechs Tage aus dieser bekannten Welt gestossen worden. Keiner wusste, was ihn in dieser Zeit beschäftigt hatte, und es interessierte auch niemanden. Das war zwar natürlich, aber er kam sich seltsam einsam vor."

Tokio Express, diese gut erzählte Geschichte aus dem Jahre 1958, lehrt uns auf spannende und unterhaltsame Art und Weise uns mit unserer Voreingenommenheit zu konfrontieren – auf dass wir die Dinge so sehen wie sie sind. 

PS: Was übrigens auch für diesen Band spricht, ist das gut in der Hand liegende Format sowie die ansprechende Umschlagsgestaltung, denn schliesslich ist das Lesen auch eine sinnliche Erfahrung.

Seichō Matsumoto
Tokio Express
Kriminalroman
Kampa Verlag, Zürich 2024

Sunday 3 November 2024

Die Lichtwandler


Eines schönen Tages, erschöpft von der Beschäftigung mit Klimakatastrophen, wendet sich die Journalistin Zoë Schlanger den Pflanzen zu, entdeckt eine ihr bis anhin unbekannte Welt und verliebt sich in sie.

Die Lichtwandler ist die Geschichte einer Faszination. Die Neugier und Begeisterung der Autorin ist ansteckend, denn wer sich intensiv mit der Natur auseinandersetzt bzw. sich auf sie einlässt, kann  Momente erleben, die selten und manchmal lebensverändernd sind. "Ein Aufflackern von Wirklichkeit." Mich erinnert dies auch an eine Beschreibung von Satori, das zur Folge haben kann, dass man zwar immer noch den gleichen Berg anschaut, doch plötzlich mit ganz neuen Augen.

Zoë Schlanger beginnt sich auf das Verhalten von Pflanzen zu fokussieren. Können sich Pflanzen überhaupt verhalten? Einige populärwissenschaftliche Bücher behaupten, sie können auch hören und fühlen. ja, sie seien intelligent. Die Wissenschaften reagierten ablehnend. Doch dann, möglicherweise infolge neuer Technologien, bekam die Vorstellung, Pflanzen seien weit komplexer als wir uns das bislang vorgestellt haben, neuen Auftrieb.

Die Pflanzen für sich zu entdecken, ist das Eine, diesen Pflanzen nachzuforschen das Andere. Das liegt daran, dass sich in jedem Wissens- und Forschungsfeld meist ganz viele Menschen tummeln, mit teils sehr gegensätzlichen Vorstellungen. Mit Begriffen wie "Pflanzenverhalten" und "Pflanzenintelligenz", so lernte Zoë Schlanger schnell, galt es vorsichtig umzugehen.

Mir selber ist dieses Phänomen vertraut. Als ich mich vor Jahren in das Nachdenken über Fotografie vertiefte, voller Neugier und Enthusiasmus, merkte ich bald einmal, dass ich in diesem Feld bei den sogenannt Etablierten nicht willkommen war, allerdings gab es auch einige. eigentlich immer ausserhalb der Institutionen, die von genuinem Interesse geleitet waren und mit denen ich bestens klar kam. Mir war das zu blöd, ich gab auf; Zoë Schlanger arrangiert sich, mit Gewinn.

Wir seien pflanzenblind, so die Autorin, können oft Buchen nicht von Birken, Weizenähren nicht von Roggenähren unterscheiden. Das liegt an der europäischen Art zu denken, das geprägt ist vom Teilen und Unterscheiden. Andere Kulturen denken anders. "Bei den Canela, einer indigenen Gruppe in Brasilien, sind Pflanzen Teil der Familienstrukturen (...) Die Pflanzen seien die 'jüngeren Brüder' der Welt, geschaffen gleich nach den 'älteren Brüdern', den Kräften des Windes, des Gesteins, des Regens, des Schnees und des Donners."

Es sind unsere Prägungen, die unsere Wahrnehmung und somit unser Leben bestimmen. Doch diese Prägungen sind nicht in Stein gemeisselt, sie können sich ändern. So begann man in den 1960ern "'Geist' und 'Verstand' als etwas zu begreifen, dass man wissenschaftlich untersuchen konnte, indem man nicht das Gehirn, sondern das Verhalten des Menschen beobachtete." In gleicher Weise begann man die Pflanzen zu studieren; seither gibt es in der Botanik zwei Lager. Das eine findet, "es sei höchste Zeit, unsere Vorstellung von Bewusstsein und Intelligenz so zu erweitern, dass sie auch die Pflanzen umfasst, während ein anderes Lager diesen Weg für unsinnig hält. Weitaus mehr Botanikerinnen und Botaniker stehen hier in der Mitte, leisten still bemerkenswerte Arbeit und warten ab, was aus dieser Debatte wird. Ich teile ihre Einschätzung."

Zoë Schlanger vertieft sich in die Botanik und lässt uns an ihrer Faszination für das viele Neuentdeckte teilhaben. Ich lasse mich gerne von ihrem Enthusiasmus infizieren. "Die meiste Freude bereiten mir allerdings Bücher, die nicht als Auftragsarbeiten, sondern eindeutig aus einer Leidenschaft entstanden sind." Dabei stösst sie immer wieder auf Staunenswertes, etwa dass eine Wurzelhaube sowohl Feuchtigkeit und Nährstoffe wie auch Hindernisse und Gefahren erkennt. Wird diese Haube abgetrennt, wächst sie nach einiger Zeit nach.

 Die Lichtwandler ist jedoch nicht nur ein Buch davon Wie Pflanzen uns das Leben schenken, es ist so recht eigentlich ein sehr grundsätzliches Werk darüber, wie wir Menschen zu Erkenntnissen gelangen, die unser Dasein auf dem Planeten Erde prägen. "In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen". zitiert die Autorin Thomas Kuhn.

Diese Haltung des Bewahrens bzw. des Widerstandes gegen Veränderungen gehört zu den herausragendsten Charakteristika des Menschen, der sich nur ändert, wenn er muss. So erfährt etwa die Vorstellung, Pflanzen könnten ein Bewusstsein haben, zum Teil heftige Ablehnung, denn sie rüttelt an unserem Weltbild. "Ob Pflanzen intelligent sind oder nicht, ist letztlich keine wissenschaftliche, sondern eine soziale Frage." Und genau deswegen ist auch der Widerstand gegen intelligente Pflanzen so gross, denn wenn wir die Dinge so sehen würden wie sie sind, könnten wir nicht mehr so leben wie wir es tun.

Der Mensch sucht nach Halt und Orientierung, hat er diese einmal gefunden, so lässt er in der Regel nicht mehr davon. Es gibt Ausnahmen, es sind zumeist diejenigen, die etwas Neues dermassen fasziniert, dass sie vom Alten lassen. Es sind aber auch die, welche auf die eine oder andere Art gezwungen werden, eine destruktive Lebensweise aufzugeben. Nicht nur Menschen, sondern auch Pflanzen, wie der sowjetische Agrarwissenschaftler Nikolai Iwanowitsch Wawilow nachwies. So wehrte sich der durch Ausrottung gefährdete Roggen, indem er die Bauern zu täuschen begann – und so überlebte.

Unser angelerntes Denken führt in die Zerstörung. Diejenigen, die sich zu sehen und zu fühlen erlauben, wissen das. Es gilt, uns von der gängigen Weltsicht, die von Gewinnern und Verlieren schwafelt, zu verabschieden, und zu erkennen, was so recht eigentlich ganz leicht erkannt werden könnte. "Jede einzelne Pflanze ist das Produkt unvorstellbaren Glücks und unglaublichen Einfallsreichtums. Haben Sie das einmal verstanden, können Sie dieses Wissen nicht mehr rückgängig machen. In Ihrem Denken hat sich ein neues moralisches Feld eröffnet."

Fazit: Überaus hilfreiche Aufklärung! Erhellend und vielfältig inspirierend.

Zoë Schlanger
Die Lichtwandler
Wie Pflanzen uns das Leben schenken
S. Fischer, Frankfurt am Main 2024