So ein Schmarren, dachte es so in mir, als ich im Vorwort las: "Ja, ich fühlte die Pflicht, meine Gedanken an die weiterzugeben, die nach mir kommen werden." Bücher schreibt man nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Eitelkeit (Titel wie 'Die Inspektion von Benazir Bhutto' {die gar nicht auftaucht}und 'Neu-Delhi, mein Imbiss mit Kofi Annan' weisen darauf hin), und manchmal aus therapeutischen Gründen. Nichtsdestotrotz ist Dissonanzen ein gut geschriebenes, höchst aufschlussreiches Buch, das einem interessante, unterhaltsame und nützliche Einblicke verschafft.
Der Chirurg Flavio del Ponte, Jahrgang 1944, stammt aus dem Tessin, wo er am Krankenhaus von Cevio berufliche Erfahrungen sammelte, bevor er seine erste Mission im gabunischen Lambarene antrat, wo er auch Lepra-Patienten zu behandeln hatte. "Ich war mit dem Thema Lepra nicht vertraut und griff zu den Büchern, die ich bei mir hatte, aber ich fand nur spärliche, bruchstückhafte und sogar widersprüchliche Informationen." Auch lernte er die Nächte des Tropenwaldes kennen – "es rumpelt, ruft, heult, schreit, zischt und vibriert bedrohlich."
Dissonanzen ist faszinierend zu lesen, auch weil Flavio del Ponte eindrücklich aufzeigt, wie menschlich es in der Medizin zu und her geht. So gestalten sich etwa die Verhältnisse in einem afrikanischen Krankenhaus, wo die Angehörigen sich mit der gesamten Küchenbatterie neben dem Bett der Kranken installieren, entschieden anders als in Europa; gehört der Umgang mit Emotionen auch für Chirurgen zu den grössten Herausforderungen. "... beobachtete ich die Anästhesistin, die dabei war, den Kleinen zu intubieren, und stellte fest, dass auch ihre Hände zu zittern begannen. Nun, genau in diesen Sekunden hörte mein Zittern ganz plötzlich auf ...".
Von 1983 bis 1986 war der Autor mit dem Schweizerischen Roten Kreuz in Kambodscha, Vietnam und Laos. Da sprechen zwar einige Französisch, doch beileibe nicht alle. Wie kam er da zurecht? "Überall auf der Welt, wo es keine gemeinsame gesprochene Sprache gibt, gibt es immer die des Körpers, die wir Europäer ganz natürlich und unbewusst verwenden, ohne sie zu kennen oder gelernt zu haben. Wir sind uns weder ihrer Ausdruckskraft noch ihrer Fähigkeit bewusst, das auszudrücken, was wir, abgeschirmt durch unser Ego, über uns selbst ignorieren und wohl auch nicht mitteilen möchten." So hellsichtig und wahr das auch ist, es trifft nicht nur auf Europäer zu.
Zu den Herausforderungen in Kambodscha gehörte auch, dass es im Operationssaal keine Klimaanlage und keine Lüftung gab. "Bei Operationen, die länger als eine Stunde dauerten, mussten immer wieder die Kittel auf dem Rücken geöffnet werden, und die Pfleger fächelten uns mit Kartons Luft zu." Dissonanzen zeigt an ganz vielen Beispielen wie unterschiedlich sich das Leben trotz vieler Gemeinsamkeiten immer wieder abspielt.
Flavio del Ponte beschreibt die Ambiance dieser drei Länder sehr anschaulich, so dass ich mich gelegentlich vor Ort und mit dabei fühlte. Ich habe selber einige Jahre in Südostasien verbracht und kenne Kambodscha, Laos und Vietnam aus eigner Anschauung. Auch macht er deutlich, dass obwohl die Menschen äusserlich ähnlich sind, ihre Mentalität oft sehr verschieden ist. Wie bei den Humanitären so üblich, wird er auch zu Botschaftsempfängen eingeladen und avanciert fast zum chef de cuisine an der französischen Botschaft in Vientiane.
In Rumänien kommt er als Projektleiter für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zum Einsatz und berichtet von einem fast gescheiterten Gipfeltreffen der Frankophonie. Mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ist er in Pakistan, Thailand, Somaliland Somalia, Kenia, Südsudan, Saudi-Arabien, Kuwait, Irak und Haiti unterwegs. Also in ganz unterschiedlichen Ländern, mit sehr verschiedenen Herausforderungen. Sehr zu schaffen macht ihm die Diskriminierung der Frauen ausserhalb des Krankenhauses; auch berichtet er erfreulich offen von durchgeführten "Heilversuchen" der Einheimischen mittels Gemüsepulver, Kamelkot, eingeweichten Früchten, zerquetschten Vögeln, Innereien und vielem mehr. "Ich gebe zu, dass es für mich persönlich eine völlig unerträgliche Situation gab und immer geben wird: der Anblick eines Gewirrs von weissen Würmern, Ascariden, die sich wie ein dichtes Gewirr von hungrigen kleinen Schlangen in der Bauchhöhle bewegen, weil der Darm perforiert ist."
Ständig wechselnde Einsatzorte bedeutet auch ständig mit neuen lokalen Eigenheiten konfrontiert zu werden. Das ist nicht nur spannend und anstrengend, sondern eröffnet auch vielfältige Möglichkeiten in ein Fettnäpfchen zu treten. Etwa in Islamabad. "Ich ging hinein und sprach den Herrn am Staubsauger unverblümt auf Englisch an, dass ich eine Verabredung mit dem Nuntius hätte, und fragte ihn, ob er mir den Weg zeigen könne. Die Antwort kam auf Italienisch: 'Ich bin der Nuntius.'"
Im Alter von 50 Jahren wird del Ponte nicht nur UNHCR-Koordinator in Tansania, sondern auch 'Beobachter' der allgemeinen Wahlen in Südafrika (1994), "der ersten mit allgemeinem Wahlrecht nach Abschaffung der Apartheid." Er war von diesen Wahlen, die sehr diszipliniert und ohne grössere Zwischenfälle abliefen, sehr ergriffen. Es war in der Tat bewegend, doch wer etwas länger im Land war als das Beobachtermissionen üblicherweise sind (ich war als IKRK-Delegierter vor Ort in Kwazulu-Natal), hatte schon damals Zweifel, ob die hoffnungsvollen Anzeichen nicht täuschten. Was daraus geworden ist, ist leider wenig erhebend.
Zu den für mich stärksten Stellen dieses Werkes gehört die Schilderung des Völkermordes in Ruanda. Das Zentrum der humanitären Hilfe war Goma; des Autors Schilderungen der dortigen Verhältnisse riefen mir die Eindrücke von IKRK-Kollegen wieder ins Bewusstsein. Gespenstische Szenen, apokalyptisch, die Hölle auf Erden. Zu den surrealen Szenen dieser Zeit gehört auch del Pontes Besuch in der leeren Schweizer Botschaft in Kigali. "... die Computer waren angeschlossen, Wasser und Licht in perfektem Zustand. Zudem fiel mir die Sauberkeit in den Räumen auf – unvorstellbar, dass hier seit Monaten kein Mensch mehr gewesen war."
Und nicht zuletzt: Humanitäre Hilfe, auch dies macht dieses Buch deutlich, besteht häufig darin, den Menschen zuzuhören sowie in endlosen Briefings, im Schreiben von Berichten und in der Kontaktpflege. So wie Bürokratien eben funktionieren.
Dissonanzen bietet instruktive und überaus gelungene Aufklärung, die sich durch imponierende Anschaulichkeit auszeichnet sowie durch ein faszinierendes Nebeneinander vom Amüsantem, Bewegendem und Aufwühlendem.
Flavio del Ponte
Dissonanzen
Das abenteuerliche Leben eines Chirurgen aus Leidenschaft
Westend, Neu-Isenburg 2024
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