Ihre Forschung hat die Glaziologin Unni nach Kanada geführt. Warum sie Gletscherforscherin geworden sei?, fragt Jon, der Englisch mit einem skandinavischen Akzent spricht. "Ich will etwas erforschen, das vergeht", antwortete ich. "Warum?" "Weil so wenig Zeit ist. Wir müssen alle Informationen festhalten, die in den Gletschern stecken (...) Eines Tages, in einem kurzen Moment, wird das, was vom Gletscher übrig ist, ins Meer rauschen, und Hunderttausende Jahre Geschichte zerfallen in Moleküle. Wenn man sich das überlegt, kommt einem alles andere ziemlich bedeutungslos vor."
Zugegeben, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Und merke jetzt, als ich das lese, das ich das hätte tun sollen, mir das gut getan hätte, weil es die Perspektive verändert, und mir diese neue Perspektive eine weit gesündere scheint als unsere vom Ego getriebene.
Wo das Eis niemals schmilzt handelt einerseits vom Klimawandel, dann aber auch von der Assimilationspolitik in Kanada und Finnland. Nicht zuletzt ist es eine berührende Geschichte ganz unterschiedlicher Beziehungen.
Unni stammt aus Finnland. Als sie noch ein Kind ist, trennen sich ihre Eltern. Der Vater bleibt in Lappland, die Mutter zieht mit der Tochter in ein Dorf bei Helsinki. Auf dem Heimweh von der Schule wird Unni regelmässig von zwei Mitschülern gequält. Sie spricht nicht darüber, lässt aber ihren Vater wissen, sie wolle zurück zu ihm.
Die Handlung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Dass die Vergangenheit nicht vergangen, sondern in der Gegenwart präsent ist, wird hier sehr schön gezeigt.
Doch die Dinge ändern sich, alles ändert sich, andauernd. Das Moor ihrer Kindheit ist verschwunden und einer platten Ebene gewichen, des veränderten Klimas wegen. "Es kommen neue Arten", sagte mein Vater. "Aber wir gewöhnen uns an sie, wir gewöhnen uns an alles."
Ihre Kindheit verbringt Unni abwechselnd bei ihrer Mutter im Süden und ihrem Vater im Norden, wo sie sich oft in der Natur aufhält, zu der sie einen starken Bezug entwickelt. Wie das Kind die Natur erlebt, ist ganz wunderbar geschildert. Man glaubt nachempfinden zu können, was die Kleine erfährt.
Jon ist ein Indigener aus dem Norden Kanadas, ein verschlossener Typ, dem "etwas schwer zu bestimmendes Trauerartiges" eignet. Er arbeitet im Krankenhaus, kommt auch als Rettungssanitäter zum Einsatz. Er ist adoptiert, sucht im Norden Kanadas nach seinem Vater. Dort trifft er auch auf Unni; Identitäts-Fragen beschäftigen ihn.
Es ist eine berührende Beziehungsgeschichte, die Inkerri Markkula hier erzählt. Nach ein paar Tagen der Leidenschaft, trennen sich Unnis und Jons Wege wieder. In Unnis Worten: "Alles war so schnell vorbei, bald sass ich schon im Flieger und dachte, die grössten Lieben sind die, die enden, bevor sie alltäglich werden." Als sie Jahre darauf nach ihm sucht, ist er zunächst unauffindbar, doch dann ...
Dieser Roman erzählt jedoch noch eine ganz andere Geschichte, eine der Naturschilderungen bzw. was für eine Kraft in der Natur liegt. "Wir öffneten das Fenster und liessen den Wind herein. Er stürzte sich auf uns und hätte uns beinahe umgeworfen, fuhr durch die Ecken und brachte Schneeflusen mit, die rotierend auf den Dielenboden schwebten (...) Der Schnee reichte bis zum Fensterrahmen, der Wind schleuderte mir Kristalle in die Augen, machte mich blind, warf mich wieder ins Zimmer." Wer von der ach so wohlwollenden Natur schwafelt, sollte dieses Buch lesen, damit er (oder sie) sich die Ehrfurcht vor den Naturgewalten bewahrt.
Aufschlussreich ist auch, wie die Menschen, die in diesen eisigen Zonen leben, mit Gletschern umgehen. "... dass man leise sein müsse, wenn man durch den Gletscher gehe, denn sonst könne der Gletscher böse werden und den Menschen zermalmen."
Wo das Eis niemals schmilzt ist überaus reich an hilfreichen Einsichten. "Jon ertrug weder Schmerz noch Tod und auch nicht, dass zum Beispiel die Natur, die nach dem Sturm zum Leben erwachte, gleich wieder starb." Man sollte bei solchen Sätzen innehalten, sie auf sich wirken lassen. Weil sie aufrichtig und ehrlich und wahr sind.
Wo das Eis niemals schmilzt gehört zu den seltenen Büchern, die uns dazu anleiten, uns mit der Natur auseinanderzusetzen, anstatt sie zu glorifizieren. Es gilt, sie als das zu nehmen, was sie ist: Unbegreiflich, majestätisch, Angst einflössend, sensationell schön, ein Wunder.
Fazit: Eine überaus lehrreiche, ungemein bereichernde Lektüre.
PS: Wie alle mare-Bücher, die ich kenne, ist auch dieses höchst ansprechend gestaltet: Lesefreundlicher Satzspiegel, Lesebändchen sowie ein Format, das bestens in der Hand liegt.
Inkeri Markkula
Wo das Eis niemals schmilzt
Mare Verlag, Hamburg 2025


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