Genau so wenig wie Bilder Geschichten erzählen können, kann auch die Wirklichkeit keine Geschichten erzählen. Geschichten werden von der menschlichen Sprache, der Erinnerung erzählt, so Fernanda Melchor in der Vorbemerkung. "Doch die Sprache ist trügerisch (...) Diese Sammlung von Crónicas wurde in der Absicht geschrieben, Geschichten auf die ehrlichste Art zu erzählen, die ich für möglich halte – indem man die stets etwas ausweichende Natur der Sprache akzeptiert und sie sich für die eigene Sache zunutze macht."
Die Geschichten, die hier versammelt sind, sind also geprägt von einer subjektiven Erzählperspektive. "Ich weiss, dass die menschliche Subjektivität womöglich das dem Journalismus fernste Feld ist ...", schreibt die Autorin. Das mag für Mainstream Journalismus gelten, für den Qualitätsjournalismus, wie ich ihn verstehe, hingegen nicht. Man denke etwa an Hunter S. Thompson, James Agee oder Janet Malcolm.
Jedenfalls: Fernanda Melchor hat keine Angst vor Subjektivität. Und genau dies gibt ihren Geschichten, die sich allesamt im mexikanischen Veracruz ereignet haben, etwas universelles. Denn je subjektiver jemand von etwas berichtet, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganz anderer oder eine ganz andere ähnliche Empfindungen teilt.
Von UFOs und toten Polizisten berichtet sie. Und vom Warendiebstahl als Kunstform, den Gesetzen im Hafen, von ausgemergelten Dominikanern, die sich vor der Einwanderungsbehörde verstecken und glauben, in Miami zu sein. Fernanda Melchor lässt sich vom Schicksal dieser Gestrandeten berühren, weswegen sie es auch überaus eindrücklich versteht, deren Geschichten zu erzählen.
Von der Karnevalskönigin, die zur Mörderin ihrer Kinder wird, lesen wir. Und von Mel Gibson, für den ein Gefängnis leergeräumt wurde, damit er dort drehen kann. Und von einem Lynchmord und einem Teufelshaus. Und und und. Nicht wenige der Geschichten handeln vom Drogengeschäft.
In Das hier ist nicht Miami porträtiert Fernanda Melchor die mexikanische Hafenstadt Veracruz durch die Geschichten, die ihr von den Einwohnern erzählt worden sind. Ja, sie hat klassisch recherchiert, doch was sie erfahren hat, ist wesentlich ihrer Neugier sowie ihrer empathischen Grundhaltung geschuldet.
Wie jede gute Journalistin fragt sie nach, macht sie sich ihre eigenen Gedanken. Und gibt ihnen auch Ausdruck. Sie selber charakterisiert ihre Arbeiten als "Geschichten, die keine klar umrissenen Anekdote wiederzugeben versuchen, sondern den Effekt, den sie auf die Empfindungen derjenigen hatten, die sie erlebt haben."
Crónicas nennt Fernanda Melchor ihr Texte, die zeigen, dass Journalismus noch etwas anderes sein kann, als das, was wir tagtäglich in der Zeitung lesen (könnten). Engagiert, sachlich und mitfühlend.
Fernanda Melchor
Das hier ist nicht Miami
Wagenbach, Berlin 2025


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