Wednesday, 6 August 2025

Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus

In der Einleitung nimmt Rainer Mühlhoff auch Bezug auf das Wüten von Elon Musks DOGE (Department of Government Efficiency), einer Zertrümmerungsmaschine sondergleichen, die als effizient zu bezeichnen keinem halbwegs zivilisierten Wesen einfallen würde, und führt dabei vor, was Faschismus heutzutage ausmacht: Antidemokratisches Wirken, Gewaltbereitschaft, der Einsatz von Technologie als Machtinstrument.

Grundlegend für den Umgang des Menschen mit der Welt, inklusive der KI, ist die Projektion. Als Beispiel möge der Aufmerksamkeitsjunkie im Weissen Haus gelten, der mit seinen zahlreichen Invektiven immer nur sich selber beschreibt. Anthropomorphisierung nennt der Autor das Phänomen in Bezug auf KI: alles wird vermenschlicht. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: We do not see things as they are, we see things as we are. Wobei auch gilt: "Was immer projiziert wird, kann übertrieben werden."

Man kann dieses Phänomen der Projektion nicht genug betonen, da die Sichtweise von KI wesentlich in der Persönlichkeit der sie Beurteilenden liegt. So hat der Medienwissenschaftler Evgeny Morozov von Solutionismus gesprochen. "Solutionismus beschreibt die Ideologie, die komplexe gesellschaftliche Probleme auf rein technische Herausforderungen reduziert ...". Nicht, dass dies etwas Neues wäre: Wer sich vorwiegend am Resultat orientiert, wird fast zwangsläufig den Weg dorthin ausser Acht lassen.

Rainer Mühlhoff unterscheidet symbolische und subsymbolische KI. Erstere meint maschinenlesbare Wenn-Dann-Regeln, das zentrale Merkmal subsymbolischer KI ist die Probabilität: sie liefert Aussagen über Wahrscheinlichkeiten. Wenn wir heute von KI sprechen, meinen wir meist subsymbolische KI-Systeme, die auf riesigen Datenmengen basieren.

Den Rechtsstaat kennzeichnet nicht zuletzt, "dass Verfahren rechtmässig und fair ablaufen müssen." Dies (Was ist schon fair?) ist bereits ohne KI nicht leicht zu bewerkstelligen: mit KI ist jedoch der sogenannte Bürokratieabbau weit willkürlicher, da etwa auf individuelle Besonderheiten schlicht nicht Rücksicht genommen werden kann.

Am Rande: So differenziert der Autor in Sachen KI argumentiert, hinsichtlich des Rechtsstaats und der Demokratie ist das weit weniger der Fall. Beides sind meines Erachtens bestenfalls idealistische Zielvorstellungen, doch keineswegs Realität, da im Kapitalismus das Geld und nicht etwa das Volk herrscht.

"Der KI-Hype im öffentlichen Diskurs" lautet einer der Titel, der mit dem Satz "Seit dem Durchbruch von Deep Learning in den 2010er Jahren ist KI ein Containerbegriff mit gewaltigem Marketingpotential geworden." sehr schön zusammenfasst, was unsere Zeit wesentlich ausmacht: Hauptsache, es lässt sich verkaufen.

Rainer Mühlhoff ist Professor für Ethik und kritische Theorien der Künstlichen Intelligenz an der Universität Osnabrück und so kann es nicht ausbleiben, dass er sich auch ausführlich mit den Ideologien hinter dem KI-Hype auseinandersetzt, die von einem Menschenbild geprägt sind, das mir persönlich fremder nicht sein könnte. Ich wähnte mich gelegentlich in einem Science Fiction.

Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit Ideen und Konzepten, die mir gelegentlich aus der Zeit gefallen vorgekommen ist, etwa wenn auf die begriffliche Unterscheidung von agonistischen und antagonistischen Konflikten der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe hingewiesen wird. Bei der agonistischen Variante streitet man zivilisiert auf der Grundlage demokratischer Prinzipien, bei der antagonistischen Variante ist die Vernichtung des Gegners das Ziel. In meiner Wahrnehmung ist die antagonistische Variante schon längst Realität.

Rainer Mühlhoff plädiert dafür, antidemokratische Kräfte zu isolieren. Und anders über KI-Technologie zu sprechen, also die wirklich wesentlichen Fragen zu stellen, als da wären: "Wer profitiert? Wer profitiert nicht? Wer wird nicht einmal mehr angehört bzw. fällt von vorneherein aus dem Raster?"

Fazit: Erhellende, hilfreiche Aufklärung.

Rainer Mühlhoff
Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 3 August 2025

Die acht Leben der Frau Mook

Im Pflegeheim Golden Sunset wird den Bewohnern angeboten, ihre Nachrufe zu schreiben. Unter ihnen ist auch Frau Mook, deren Lebensgeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst. Selbstbewusst, clever, verschmitzt, verfügt sie über vielfältige Kenntnisse und eine Lebenshaltung, die geprägt ist von ihrem ungebildeten Vater und ihrer sehr gebildeten Mutter.

An der nordkoreanischen Grenze tritt sie auf eine Mine und wird von einer Geisterjungfrau gerettet, die verdächtigt wird, aus dem Norden zu stammen. In Heoguri, einem kleinen Bauerndorf bei Pjöngjang, nimmt sie mit ihrer Mutter zusammen bei einem Pastor Englischstunden. Grossartig, wie dieser 'lockige Rotschopf' geschildert wird, der die Kleine auch für Shakespeare zu begeistern wusste, "weil er seine Dramen immer mit Liebe, Tod und Verrat aufmöbelte, zum Beispiel in Romeo und Julia und Othello."

Grossartig auch, wie die Mutter der Tochter erklärt, warum Sprache wichtig ist. "Worte sind nicht nur Worte, mein Schatz. Sie sind viel mehr als ein einfaches Werkzeug, um deine Absichten zu vermitteln. Worte können deine Art zu denken beeinflussen, und du kannst dank ihnen beeinflussen, wie andere denken. Das ist niemals eine Einbahnstrasse."

Anfang der 1950er Jahre. Der Koreakrieg. Mit Hunderten von Menschen flüchtet sie auf Güterwagen in den Süden, wo sie sich als Junge ausgibt und als inoffizieller Leiter und Übersetzer in einem sogenannten Trosthaus angestellt wird, wo Frauen als "den für die Yankees reservierten Kriegsproviant" gefangen gehalten wurden. Unter den Mädchen war auch die ungemein begabte Geschichten-Erzählerin Yongmal, die einst einer arrangierten Heirat entfliehen wollte, die sie in der Folge zu schätzen begann. 

Diese Ehe wird auch aus der Sicht des Ehemanns geschildert. Sehr berührend und dabei deutlich machend, wie unsere Vorstellungen von der Realität korrigiert werden, auch wenn diese nicht wirklich greifbar ist. Was hat wirklich stattgefunden, was ist imaginiert? Man weiss es nicht so recht, es bleibt in der Schwebe. Und nicht zuletzt dies macht den Reiz dieses Romans aus. Nein, nicht nur, es ist auch der Ton, der Rhythmus, die Unverblümtheit, die Frische, die diesen Text zur einer packenden Lektüre machen.

"Gutes Kino kann dich mühelos an einen anderen Ort und in eine andere Zeit befördern", sagt ihr Mann mit einem wehmütigen Seufzen. "Wie traurig dass die Partei heutzutage jeden Film in ihr politisches Schema presst." Auch Die acht Leben der Frau Mook befördert uns an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Und passt in kein vorgefertigtes Schema.

"Yongmal und ich ähnelten uns in vielem. Wir seien beide klug und stur, sagten sie. Wir weigerten uns, vor den Trosträubern Tränen zu zeigen. Wir sahen sogar ähnlich aus: etwa gleich gross und schwer, mit hohen Wangenknochen und leicht eckigem Kinn, das die Männer auffallend und abschreckend fanden."
Das Schicksal der Mädchen im Bordell ist brutal, einige sterben, unter ihnen auch Yongmal.

Als dann jedoch Frau Choi ihre Geschichte erzählt, sie sei eine Hochstaplerin, keine Spionin, sagte sie, erwähnt sie auch, dass sie zusammen mit Yongmal und vielen anderen koreanischen Mädchen als Trostfrauen zum Militärstützpunkt der kaiserlichen japanischen Armee nach Semaran in Indonesien verschleppt worden sei. Mit anderen Worten: Es ist ein ziemliches Verwirrspiel, dass die Autorin hier vorführt. Und zwar ausgesprochen gekonnt.

Der Koreakrieg endet mit der Teilung des Landes. 'Das Arbeiterparadies auf Erden' beflügelte damals die Menschen im Norden, die sich dann schnell ans gegenseitige Belauschen gewöhnten, dieses Kontrollinstrument kommunistischer Herrschaft weltweit. Kinder werden regelrecht abgerichtet; sie sollen bei Hinrichtungen dabei sein. Man lernt zu tun als ob. "Die Lektion im Weinen erwies sich als nützlich, vor allem später, als der Oberste Führer, den die Menschen stillschweigend für unsterblich gehalten hatten, starb."  

Die acht Leben der Frau Mook ist clever, imaginativ, witzig und reich an vielfältigen Lebensweisheiten. "Aimé Adel hat einmal gesagt, die Ehe sei eine Reise vom Aussergewöhnlichen zum Gewöhnlichen. ein stetes, tropfenweises Erkennen, dass das, was du einst für so besonders gehalten hast, nichts weiter als Mittelmass ist." Auch wenn man meist nicht so recht weiss, ob das wirklich so gewesen sein kann, ist vieles in diesem Roman wirklich passiert, wie die Autorin schreibt.

Mirinae Lee
Die acht Leben der Frau Mook
Unionsverlag, Zürich 2025

Wednesday, 30 July 2025

"My" Japan (7)



Taken wiith my mobile phone in April / May 2019.

Sunday, 27 July 2025

Natural Patterns





Santa Cruz do Sul, Rio Grande do Sul, Brazil
January/February 2025
 

Wednesday, 23 July 2025

Kritisches Denken einfach erklärt

Schon lange beschäftigt mich die Frage, wie viel an unserem Denken eigentlich bewusst ist. Beobachtet habe ich, dass ich so recht eigentlich immer auf Autopilot unterwegs bin. In Kritisches Denken einfach erklärt finde ich diese Beobachtung ausgeführt. "Die vermeintlich bewussten Entscheidungen stehen eventuell am Ende von unbewussten Prozessen, welche bereits das Verhalten bestimmen. Fest steht, dass wir uns selten bewusst entscheiden und selbst dann unbewusste Prozesse eine entscheidende Rolle spielen." Das "eventuell" sei den Autoren nachgesehen, es entspricht den akademischen Gepflogenheiten, ist jedoch für alle, die keine akademischen Rücksichten nehmen müssen, überflüssig.

Wer sich mit dem Denken auseinandersetzt, kommt ums Hirn nicht herum, Dieses funktioniert antizipatorisch und orientiert sich an der Nützlichkeit; eine realistische Abbildung der Welt liefert es hingegen nicht, wie die Autoren an zahlreichen Beispielen aufzeigen. Unsere Wahrnehmung von der Welt ist beschränkt; es wäre schön, wenn dies nicht nur Forschern klar wäre.

Doch auch unser Denken ist beschränkt d.h. vom Unbewussten nicht nur geprägt, sondern geleitet, Gezeigt wird das an kognitiven Heuristiken oder, etwas weniger prätentiös, Faustregeln oder mentalen Abkürzungen, die wir entweder verinnerlicht haben oder die uns mitgegeben worden sind. Dazu gehören etwa Bestätigungsfehler d.h. wir ziehen in der Regel Meinungen vor, die unsere Ansichten bestätigen, oder unsere Gratismentalität.

Diese Abkürzungen haben zwar das Potential, uns in die Irre zu führen, doch das ist nicht immer der Fall. "So unerfreulich es auch sein mag, dass wir oft weniger gründlich nachdenken, als wir glauben, so hilfreich ist es im Alltag. Jedem Verhalten im Alltag könnte eine lange innere Diskussion zugrunde liegen. Soll ich mir nun einen Tee machen? Habe ich Durst? Wie viel Wasser werde ich verbrauchen und wie viel Energie? (...) Wir können nicht alles durchdenken und wenn wir im Alltag nicht ewig lange vor einem Regal stehen wollen, müssen wir von Abkürzungen Gebrauch machen."

Neben den mentalen Abkürzungen kann auch unsere Fähigkeit, allüberall Zusammenhänge auszumachen, uns gelegentlich den Blick verstellen, was auch daran liegt, dass unser Hirn schlecht mit Zufällen umgehen kann, weshalb es denn auch ständig auf der Suche nach Regelmässigkeiten ist, und dabei oft das Bauchgefühl verklärt oder etwa den Sternzeichen eine Bedeutung gegeben werden, die eher mit unseren Hoffnungen und Träumen, als mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Dass alles seinen Grund habe, glauben viele, die noch nie viel nachgedacht haben, denn "nur weil etwas nach etwas anderem geschieht, bedeutet es nicht, dass es auch die Ursache dafür ist." So nützlich es ist, nach Ursachen zu suchen, auch wenn man sie nicht immer findet, letztlich ist das Ursache-Wirkung-Denken nichts anderes als unsere gewohnte Art zu denken, die zu meiner Verblüffung auch auf das Unbewusste angewendet wird, über das wir doch (das Unbewusste ist per definitionem unbewusst) gar nichts wissen können

Kritisches Denken einfach erklärt nimmt sich so ziemlich aller gängigen Faktoren an, von denen unser Denken beeinflusst ist. Vom Unterschied von Kausalität und Korrelation zu unserer Tendenz, das zu mögen, was wir kennen, von unserer Autoritätsgläubigkeit zu all dem, was wir nicht wissen (können); von den Halbexperten zu den Fake News, ein Begriff, der, so die Autoren, von Donald Trump vorangetrieben worden sei. Das ist sicher richtig, nur versteht Donald Trump darunter keine Falschnachrichten, sondern alle Nachrichten, die nicht sein Loblied singen.

Kritisch denken zu können ist wesentlich eine Frage des Bewusstseins, es setzt unter anderem voraus, sich klar über des Menschen grösste Schwäche (oder sein grösstes Talent) zu sein: Die Fähigkeit zum Selbstbetrug. Auch das Wissen darüber, dass man es gerne bequem hat, kann helfen, zu erkennen, ob man zum Beispiel von seinen Sehnsüchten oder von einem Algorithmus verführt wird.

Auch ethische Überlegungen sollten beim kritischen Denken mit einbezogen werde, so die Autoren. "Auch in der Ethik gibt es gute und weniger gute Begründungen, und zu erkennen, was eine ethisch betrachtet gute und was keine gute Begründung ist, kann auch als ein Teilaspekt, des kritischen Denkens gesehen werden." Dabei liesse sich auch darüber nachdenken, wie es eigentlich kommt, dass wir Argumenten (es sind bloss Argumente!) eine derartige Macht verleihen, dass sie etwa Gerichtsfälle zu entscheiden vermögen.

Kritisches Denken einfach erklärt ist sowohl informativ als auch anregend und hilft, den menschlichen Verstand besser zu verstehen. Von der Wissenschaft können wir dabei das Prüfen lernen. "Sobald wir etwas behaupten, wäre es gut, wenn die Behauptung auch prüfbar ist." 

Fazit: Ein akademisches Buch von praktischer Relevanz (eine Rarität also!), das sehr schön aufzeigt, wie und weshalb genaues Hinschauen und Nachdenken hilfreich sind.

Andreas Blessing, Philipp Barth
Kritisches Denken einfach erklärt
transcript Verlag, Bielefeld 2025

Sunday, 20 July 2025

Am Fliessband

First Things First: Bücher geht man voreingenommen an, in den meisten Fällen positiv. Im Falle des vorliegenden Romans ist es die Gelb/Rot/Schwarz-Ausstattung, die für mich den ursprünglichen März-Verlag ausmachte, von dem ich einst Fan gewesen bin, speziell wegen Christian Schultz-Gersteins Doppelkopf und Ernst Herhaus' & Jörg Schröders Siegfried.

Es sei gleich vorweggenommen: Am Fliessband ist ein wirklich toller Roman. Einerseits, weil Upton Sinclair schreiben kann, und andererseits, weil dieser Roman exzellent gegliedert ist, die kurzen Kapitel machen das Lesen zu einer wahren Freude.

Geschildert werden die Anfänge des eigenwilligen Tüftlers Henry Ford, der sich von niemandem dreinreden liess, einen ungebildeten Verstand besass, der weniger aus Fragen, denn aus Überzeugungen bestand. Nichtsdestotrotz war er ein komplexer Mensch, wenn er auch nichts davon wusste – es zeigte sich in seinem Handeln.

Parallel zu Fords Aufstieg wird auch der Aufstieg des aus einfachen Verhältnissen stammenden Abner Shutt geschildert. Aufrichtig und bescheiden, ein Arbeiter, der zupackt, sich mit der Ford Motor Company identifiziert. Wie Henry Ford ist auch Abner Shutt kein Denker, beide funktionieren auf der Basis von recht simplen Überzeugungen.

Henry Ford war Pazifist, dann begann er die Massenproduktion von U-Boot-Zerstörern. Der 'Rasierklingen-König' Gillette, eine sensiblen Seele, versuchte Ford den Irrsinn des Wettbewerbssystems begreiflich zu machen, doch er stiess auf taube Ohren.

Es ist erstaunlich, dass man mit Sturheit so weit (wirtschaftlich gesehen) kommen kann. Daraus lässt sich unschwer schliessen, dass den Gescheiteren und Sensibleren nur im Ausnahmefall eine Karriere offensteht. Und dass Anständigkeit, wie Abner Shutt erfahren musste, dabei ein Hindernis ist.

Am Fliessband sei "nicht zuletzt ein noch heute aktuelles Psychogramm einflussreicher Soziopathen", so der Verlag. Das trifft es gut; ich fühlte mich gelegentlich an den Hobby-Golfer aus Queens erinnert. "Er räumte gehörig auf. Wer nicht ganz und gar zu ihm stand, flog raus." Oder: "... Henry tat so, als wüsste er nichts von diesen Dingen, die auf seinen ausdrücklichen Befehl geschahen. Er versprach eine Untersuchung, unternahm aber nichts."

Darüber hinaus ist Am Fliessband auch ein erhellendes Stück Sozialgeschichte. "Sie lebten in einer Hierarchie, in der gesellschaftlicher Rang sich nach dem Einkommen richtet." Und so recht eigentlich ist es dieses Einkommen respektive das Geld, das wir zum Gott unseres Trachtens gemacht haben, und das uns gefangen hält, nicht nur die Armen, auch die Reichen, wie Upton Sinclair am Beispiel des Milliardärs Henry Ford eindrücklich vorführt.

"Er hatte mit so wunderbaren Idealen begonnen, mit so viel Grossmut im Herzen, mit so vielen Entschlüssen, die erwarten liessen, sein Leben werde ein gutes sein. Nun war er Milliardär, und sein Geld hielt ihn gefangen wie das Spinnennetz die Fliege. der mächtigste Mann der Welt zappelte hilflos in der Faust seiner Dollarmilliarde." Das klassische Frankenstein-Syndrom: Der Mensch erschafft sich eine Welt nach seinen Wünschen und wird dann ihr Gefangener.

Im Falle von Henry Ford zeigte sich das auch darin, dass während der Weltwirtschaftskrise auf demonstrierende Arbeiter geschossen wurde, die Löhne mussten runter, es gab Arbeits- und Obdachlose zuhauf. Doch auch Widerstand regte sich, Gewerkschaften bildeten sich, auch ein Sohn von Abner Shutt schliesst sich ihnen an.

Am Fliessband lebt nicht nur vom Erzähltalent des Autors, sondern auch von dessen zutiefst menschlicher Anteilnahme sowie seiner ausgezeichneten Beobachtungsgabe, die auch klar erkennt, dass Geld definitiv den Charakter verdirbt. Dass aus dem idealistisch gestarteten Henry Ford ein Antisemit, Verschwörungstheoretiker und Ku-Klux-Klan-Sympathisant hat werden können, lässt sich nur mit seinem Erfolg und dem damit einhergehenden Reichtum erklären.

Ein Klassiker, also zeitlos.

Upton Sinclair
Am Fliessband
März Verlag, Berlin 2025

Wednesday, 16 July 2025

Ruinen der Wahrheit

Ich erwarte mir viel von diesem Buch, bin dann aber ziemlich ernüchtert, als ich lese, bei den Wahrheitsquellen, die seit Beginn der Neuzeit zu den Fundamenten unserer Demokratie geworden seien, handle es sich um die objektive Wissenschaft, die unabhängige Justiz und die freie Presse. Mit Verlaub, doch das ist schlicht Blödsinn. Die unabhängige Justiz (Richter werden von politischen Parteien gewählt) und die freie Presse (die Presse berichtet im Interesse ihrer Eigentümer) hat es noch nie gegeben, und um die objektive Wissenschaft wird unablässig gerungen.

Aufschlussreich ist hingegen, was der Autor über die von Platon begründete Wahrheitsvorstellung ausführt: Die Wahrheit ist nicht im Hier und Jetzt zu finden, sie wird dem Menschen ausserhalb des Hier und Jetzt gegeben. Gemäss Richard Rorty hatte dies auch mit dem harten Leben von damals zu tun (eine Verbesserung dieses Lebens lag jenseits aller Vorstellung). "Die Vorstellung, dass die irdische Wirklichkeit nur 'Schein' ist, enthielt Hoffnung und Trost (...) Die Funktion der Wahrheit bestand entsprechend darin, so Rorty, 'sie aus dem Elend zu erheben und in eine bessere Welt zu befördern.'"

Rob Wijnberg erzählt seine kurze Geschichte der Zeit als Geschichte der Emanzipation des Menschen. War dieser von 400 v.Chr. bis 1600 n.Chr. passiv und untertänig, so wurde aus ihm von 1600 bis 1950 ein Träger von Rechten, der sich als Beherrscher der natürlichen Ordnung wähnte. Möglich wurde das nicht im luftleeren Raum, sondern es ging einher mit der Verbrennungsökonomie (Öl und Gas), die sowohl Fortschritt als auch Zerstörung (Konzentrationslager) möglich machten.

Der nächste Schritt wurde dann wesentlich von Nietzsche ("Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.") eingeleitet. Mit anderen Worten: Die Wahrheit wird weder gegeben, noch gefunden, sondern gemacht. "Die Wahrheit ist kein Spiegelbild, sondern eine Projektion des Menschen."

1947, zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde auf dem Mont Pèlerin die Ideologie des freien Marktes eingeläutet, deren Folge die Ökonomisierung der Gesellschaft war. Die Wahrheit wurde zu einem Produkt. "Die Welt ein Laden, der Mensch ein Kunde", so Rob Wijnberg. "In der heutigen postmodernen Konsumgesellschaft ist Wahrheit nicht gegeben, sie wird nicht gefunden oder gemacht, sie wird konsumiert."

Unsere Sicht der Welt (und damit auch unsere Sicht der Wahrheit) ist wesentlich ökonomisch geprägt. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen (unsere Lebensbedingungen), die unserer Wahrnehmung prägen. So regieren die Gesetze des Marktes nicht nur die Welt der Waren, sondern auch die Politik. Anders gesagt: Was obenaus schwingt, ist das, was sich am besten verkauft. Ob im Supermarkt oder im Parlament. 

Bedürfnisbefriedigung, weist Rob Wijnberg nach, rangiert zuoberst auf der Wertskala, die uns leitet. Es erstaunt daher nicht, dass in einer Warenwelt auch die Wahrheit zur Ware wird, die genauso konsumiert wird wie andere Waren auch.

Zu den eindrücklichsten Kapiteln gehört Die Mediatisierung der Wahrheit, worin der Autor auch aufzeigt, dass die Nachrichten so recht eigentlich ständig unsere Fiktionen (Wirtschaft, Landesgrenzen, digitale Währungen, Innovation etc. sind alles Fiktionen) bekräftigen, damit wir sie auch ja für real halten. Auch dass wir einem steten Strom von Informationen aus Weltgegenden, die fernab liegen, ausgesetzt sind, trägt nicht unbedingt zu unserem Wohlbefinden bei. Im Gegenteil, wir werden misstrauisch. "Versuchen Sie nur einmal, die Nachrichten zu verfolgen, ohne zu dem Schluss zu gelangen, dass wir von Schurken oder Dummköpfen regiert werden."

Wir sollten uns lösen von den uns aufgedrückten Vorstellungen, die wir von uns und der Welt haben, und stattdessen genau hinsehen. Alsdann werden wir erkennen, dass der Erfolg der Spezies Mensch in der Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Fürsorge gründet. Rob Wijnberg bezeichnet "Wahrheit als Gewebe" und weist an vielen Beispielen nach, dass und wie wir aufeinander angewiesen sind. "Wahrheit ist das, was wir teilen."

Fazit: Ein origineller und hilfreicher Blick auf die Wahrheit: Wie sie sich nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Bedingungen gewandelt hat und wie wir sie heute definieren müssen.

Rob Wijnberg
Ruinen der Wahrheit
Eine kurze Geschichte unserer Zeit
C.H. Beck, München 2025