Sunday, 9 March 2025

Das tägliche Gegengift

Herbert Riehl-Heyse hat mehr als drei Jahrzehnte für die Süddeutsche Zeitung das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland beschrieben. Der hier vorliegende, schön gestaltete, von Gernot Sittner herausgegebene Band, versammelt Reportagen und Essays, die in Buchform aufzubewahren sich lohnt.

Sicher, Journalisten schreiben für den Tag, doch gelegentlich weist das für die Tageszeitung Verfasste eben auch über diesen Tag hinaus. Wäre ja auch etwas eigenartig, wenn dem nicht so wäre, denn Kriterium für gutes, unterhaltendes und aufklärendes Schreiben (ob mit Blick auf die Ewigkeit oder auf den folgenden Tag verfasst) kann doch eigentlich nur sein, dass eben dieses Schreiben gut, unterhaltend und aufklärend ist. Und Herbert Riehl-Heyses Schreiben ist dies ganz gewiss.

Die Auswahl, die Gernot Sittner für diesen Band getroffen hat, macht unter anderem deutlich, was für ein breit interessierter Mensch der gelernte Jurist Riehl-Heyse gewesen ist. Da geht es nämlich von Willy Brandt („fast zu viele Stationen für ein Leben“) über ein „Puzzle namens Schmidt“ zur Wohlstandskriminalität („Zugreifen als Breitensport“), von Accessoires in der Jugendkultur („Die Rasierklinge als Bekenntnis“) über Erich Honeckers Verteidigungsrede vor seinen Richtern in Moabit („Gegeben wird der heldenhafte Kommunist“) zum Tatort Fernsehen („Morden auf allen Kanälen“).

Was Herbert Riehl-Heyses Schreiben wesentlich auszeichnet, ist sein Stil – und der ist scheinbar umständlich, fragend, gescheit, witzig, und häufig ironisch. Dazu kommt, dass der Autor in seinen Texten auch selber vorkommt und das ist nicht nur gut so, sondern das ist, wenn man es recht bedenkt, eine der überzeugendsten Formen von Journalismus, denn der Autor macht damit unter anderem deutlich, dass die persönliche, subjektive Seite der Berichterstattung offen gelegt werden soll. Doch ist dieses Sich-Selber-Ins-Spiel-Bringen, wie das Riehl-Heyse gelegentlich vorgeworfen wurde, nicht vor allem eitel? Sicher, eitel ist das auch, doch Eitelkeit ist bei Journalisten (und bei vielen anderen) eine Berufsvoraussetzung und kein Argument. Zudem war Herbert Riehl-Heyse, gemessen an vielen seiner Kollegen, ungewöhnlich zweifelnd und selbstkritisch und wusste sich zurück zu nehmen.

Doch nehmen wir ein Beispiel und zwar „Das verlorene Rezept der Sterneköche“, ein Text von Ende Dezember 1995, der von der Spitzengastronomie in der Krise (so der Untertitel) handelt, doch eben, wie wir gleich sehen werden, nicht nur von dieser, sondern von weit mehr, nämlich vom Leben insgesamt und wie darin alles irgendwie miteinander verknüpft ist. Der Text beginnt so:

„Ohnehin ist die Stimmung nicht übertrieben gut an diesem trüben Wintertag – nicht draussen, wo dem Unbehausten der Nebel unter den Burberry kriecht, und auch drinnen nicht, im altehrwürdigen „Schwarzwälder“, wo in düsteren Räumen 21 Gäste bei Hummercremesuppe und Entenfleischpflanzerl ein wenig verloren wirken. Nebenan im Bistro des Restaurants ist es voller, es wäre dort sogar ziemlich gemütlich – wenn nicht plötzlich der Chef am Tisch stünde, fahl im Gesicht: Ob wir es schon gehört hätten? Wir erschrecken beachtlich: Ist ein Flugzeug abgestürzt, gar Moshammer verblichen? Viel schlimmer: „Der Winkler hat seinen dritten Stern verloren.“ Bedrücktes Schweigen, Otto Koch spendiert ein tröstendes Pils.

Man könnte die Anekdote natürlich auch ganz anders erzählen, ohne jede Ironie, ganz nüchtern. Dann bräuchte man nur kurz zu berichten, dass dem Gastronomen und Koch Heinz Winkler und seinem Etablissement „Residenz“ in Aschau am Chiemsee der dritte Stern im Michelin-Führer aberkannt worden ist, jener Stern, mit dessen Hilfe es zu einem der drei Spitzenrestaurants in Deutschland ausgerufen worden war. Damit könnte man es denn bewenden lassen, weil eine solche Nachricht nun wirklich nur eine der allerkleinsten Katastrophen ist in einer manchmal katastrophalen Welt. Einerseits.

Andererseits – was einer als Katastrophe empfindet, ist vor allem seine Sache und eine Sache der Welt, in der er lebt: In der sehr kleinen Welt der Kochkunst gilt es ja schon als Katastrophe, wenn ein Gast zur Seezunge mit Champagnersauce ein Bier bestellt.“

Na, neugierig geworden? Soviel sei zum Fortgang dieser Geschichte verraten: dieser Text handelt nicht nur von Köchen und Küchen, sondern auch davon, wie in der kulinarischen Provinz Deutschland eine neue Zeit anbrach, und davon, dass man gleichwohl mit ökonomischen Problemen zu tun hat, auch wenn man einem Paar für Essen und Trinken 600 Mark berechnet und und und. Doch vor allem handelt dieser Text …, doch wir lassen dies am besten Riehl-Heyse selber sagen: „Wer erzählen will, was da in einer sehr überschaubaren Szene passiert, erzählt gleichzeitig auch ein wenig vom Lauf der Zeit insgesamt: davon, was sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelt hat in der Republik und was sich gerade wieder zurückentwickelt und was daran sinnvoll sein könnte, und was nicht.“ Dies gilt nicht nur für diesen Text, es gilt für seine Text generell.

Herbert Riehl-Heyse hat einmal gesagt, es gehe ihm darum, den Leuten (und vermutlich auch sich selber) zu erklären, wie es auf der Welt zugehe. Dass ihm dies ganz hervorragend gelungen ist, zeigt das vorliegende Buch eindrücklich.

Herbert Riehl-Heyse
Das tägliche Gegengift
Reportagen und Essays 1972-2003
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2008

Wednesday, 5 March 2025

Typisch China?

 

Damit es gleich gesagt ist: Zwei der in diesem schmalen Band versammelten vier "Essays in global vergleichender Kulturgeschichte" sind bereits in anderen Verlagen erschienen und zwar noch gar nicht so lange zurückliegend: 'Komplexe Kulturen' in 2006 (Bautz), 'China - eine altsäkulare Zivilisation' in 2008 (Romero Haus). Die Texte über 'Chinesisches in europäischen Alphabetschriften' und 'Die Schweiz - ein Studienobjekt interkultureller Politologie' sind in dieser Form noch nicht publiziert worden.

Es sei an der Zeit, über einfache Zweiteilungen wie Osten und Westen, Christentum und Islam, Europa und China hinauszukommen, liest man in der Einleitung. Unterstrichen wird dies mit einem sehr schönen Zitat von Hermann Hesse, der im Dezember 1921 in der NZZ schrieb: "… wir sehen im alten China Hinweisungen auf eine Denkart, welche wir allzusehr vernachlässigt haben; wir sehen dort Kräfte gepflegt und erkannt, um welche wir uns, mit anderem beschäftigt, allzu lange nicht mehr gekümmert haben."

Man müsse sich vor den grossen Vereinfachern hüten, schreibt Holenstein, der selber keiner ist, sondern ein differenziert argumentierender Intellektueller, der sich wohlformuliert und verständlich auszudrücken versteht. Das liest sich dann zum Beispiel so: "Zu keiner Zeit waren die konventionellen Grenzen Europas auf der ganzen Linie zugleich klimatische, ethnische, staatliche, ökonomische, sprachliche, religiöse oder Mentalitätsgrenzen. Selbiges gilt für Südasien (Indien), das von der übrigen asiatischen Landmasse geographisch deutlicher abgegrenzt ist als Europa. Erst recht gilt dies für das "Mittelland" Zhongguo (China) mit seiner unbeständigen Ausdehnung, seinen Aufspaltungen, Sezessionen und Fremdherrschaften, mit seinen freiwilligen und unfreiwilligen Tributstaaten und mehr oder weniger sinisierten, abwechselnd sinophilen und sinophoben Nachbarregionen. Im gleichen Klima gedeihen Raub- und Beutetiere und spalten sich die Menschen in Kriegsbefürworter und Kriegsgegner. Sprecher der gleichen Sprache gehören verschiedenen Religionen an. Anhänger der gleichen Religion pflegen eine unterschiedliche Philosophie, eine rationalistische die einen, eine mystische die anderen. Im gleichen industrialisierten Staat gibt es Kapitalisten und Sozialisten."

Wie kommt das? Warum sind kulturelle Traditionen nicht wirklich homogen? Holenstein lesen, kann man da nur sagen. Gescheite Überlegungen dazu finden sich im Essay 'Komplexe Kulturen'. In 'China - eine altsäkulare Zivilisation' wird dargelegt, dass in China die Trennung von Religion und Moral (die der Autor gewichtiger für eine säkuläre Gesellschaft hält als die formelle Trennung von Kirche und Staat) eine Selbstverständlichkeit ist, und zwar seit bereits zweieinhalbtausend Jahren (am Rande: unter Tausenden von Jahren geht in China gar nichts: jeder Besucher des Landes wird innert kürzester Zeit darauf hingewiesen, dass es sich bei der chinesischen um eine 5'000jährige Kultur handelt). Bemerkenswert ist übrigens, dass diese Trennung kulturkampflos erworben wurde.

Im Essay "Chinesisches in europäischen Alphabetschriften: Ein Versuch in vergleichender Schriftgeschichte" wird im Teil über 'Terminologische Vorabklärungen' darauf hingewiesen, dass wer "über elementare sprachwissenschaftliche und/oder schriftgeschichtliche Kenntnisse" verfüge, diesen Abschnitt "selbstverständlich überspringen" könne. Anders gesagt: der Text setzt ein ziemlich ausgeprägtes einschlägiges Interesse voraus.

Das gilt auch für den vierten und letzten Essay, der sich jedoch nicht mit sprachwissenschaftlichen und schriftgeschichtlichen sondern mit juristischen Fragen auseinandersetzt. Auch hier findet man wieder den Hinweis, dass sich die Kulturen gar nicht so unterscheiden, sondern dass man in der Regel in der einen Kultur etwas in den Vordergrund rückt, was in der anderen im Hintergrund bleibt. So sind zum Beispiel informelle Konfliktlösungen, die in Japan und China prominent vertreten sind, auch der Schweiz nicht fremd (Deutschland hingegen schon, möchte man da sofort beifügen). Worum es dem Autor ganz zentral geht, drückt er im letzten Absatz dieses Essays so aus: "Ein Netzt von typologischen Gemeinsamkeiten kreuz und quer über politische Grenzen, geschichtliche Entwicklungsläufe und geographische Entfernungen hinweg bietet Leitfäden an, denen folgend die politologische Verständigung und die politische Zusammenarbeit eine vielförmige Gestalt gewinnen können."

Noch dies: die offensichtlichen Sympathien, die Holenstein China entgegen bringt, treiben manchmal auch etwas eigenartige Blüten. Als der Dalai Lama im Jahre 2005, anlässlich der Jahrestagung der Society of Neuroscience in Washington D.C., zu einem Vortrag eingeladen wurde, protestierten 500 Neurowissenschaftler, die vorwiegend chinesischer Abstammung und in den USA tätig waren. In Erwägung ziehen könnte man, meint Holenstein, dass der Protest nicht nur, wie die Presse unterstellte, aus Willfährigkeit gegenüber der chinesischen Regierung erfolgte, sondern "auch damit zu tun haben könnte, dass in China in der Vergangenheit die Kritik an der buddhaitischen Religion immer wieder mit dem Obskurantismus und Zelotentum begründet wurde, denen gegenüber buddhaitische Mönche wie Anhänger auch aller anderen grossen Religionen nicht immer immun waren. Religiöses Schwärmertum und von charismatischen Religionslehrern genährte Unruhen sind im allgemeinen Geschichtsbewusstsein in China präsent geblieben und werden von einem Teil der Regierenden gezielt präsent gehalten. Entsprechend ist keineswegs bloss die Regierung möglichen Anfängen in die Richtung überempfindlich auf der Hut." Dass kann schon sein, doch ohne dass dem Leser der Wortlaut dieses Protestes mitgeteilt wird, bleibt dies eine ziemlich obskure Behauptung.

Elmar Holenstein
China ist nicht ganz anders
Essays
Ammann Verlag, Zürich 2009

Sunday, 2 March 2025

Globalisierung

Ich definiere Globalisierung als die Freiheit meines Konzerns, zu investieren, wo er will und wie lange er will, um zu produzieren, was er will, einzukaufen und zu verkaufen, wo er will, wobei er sich so wenig wie möglich durch arbeitsrechtliche Vorschriften und soziale Konventionen in seiner Geschäftstätigkeit einschränken lässt.

Percy Barnevik, ehemaliger Vorstandschef von ABB
zitiert in: Bernard Minier: Schwarzer Schmetterling

Wednesday, 26 February 2025

Medien & Propaganda

 An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten schlägt man sich zumeist mit Begriffen und Definitionen herum. Das war auch der Fall, als ich einst an der School of Media, Journalism and Cultural Studies der Universität Cardiff studierte und mich unter anderem mit Fragen auseinandersetzte, die man als akademische kennt: Was genau ist Journalismus? Worin unterscheiden sich Propaganda, PR und Werbung? Etc. etc.

Damals fand ich diese Abgrenzungen nicht uninteressant; heutzutage, wo alles dem Diktat der Verkaufens unterliegt (das war vermutlich auch damals so, für mich jedoch weniger offensichtlich als heute), erachte ich sie als akademisch d.h. nicht von praktischer Relevanz. Kurz und gut: Medien und Propaganda betreiben dasselbe Geschäft, die Aufmerksamkeitssteuerung. Die Medien machen Propaganda für sich selber.

In den letzten Wochen und Monaten dominierte ein Thema mehr als alle anderen – die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Täglich und mittlerweile stündlich werden wir zugemüllt mit den letzten Aktionen des einen oder der anderen. Der eine, mit dem Wortschatz eines Kleinkindes, greift seine Konkurrentin mit den Ausdrücken an, die ihn selber charakterisieren (dumm, verrückt, niedriger IQ), die andere, intelligent und humorvoll, repräsentiert die politische Klasse, die wir gewohnt sind.

Die Medien tun so, als ob sie der Aufklärung verpflichtet seien. Sie tun als ob dieser Wettkampf ein Ringen um Inhalte sei, sie stellen Fragen, auf die sie keine Antworten bekommen, sie sagen, was der eine und die andere besser machen müsste. Dabei tun sie letztlich fast nichts anderes, als Leuten (sogenannten Experten) eine Plattform für ihre Ignoranz zu geben.

Nach wie vor gebe es zahlreiche Unentschlossene, kann man seit Wochen hören. Wer das glaubt, hat nicht alle Tassen im Schrank. Oder er/sie lügt, denn entschieden ist schon längst. Wahlen sind selten etwas anderes als Bauchentscheide, wäre das sachliche Abwägen Realität oder ginge es um das Gemeinwohl, hätte der Egomane ohne jeden Anstand nicht die geringste Chance.

Uns wird erzählt, das Rennen stünde auf Messers Schneide. Ob das stimmt, weiss niemand, denn Meinungsumfragen liegen bekanntlich oft falsch. Zudem beeinflussen sie das Rennen, weshalb wir uns so recht eigentlich von ihnen fern halten sollten. Die Medien tun das nicht, sie bemühen sich, das Ganze spannend zu gestalten, denn sie wollen, dass wir dabei bleiben, schliesslich leben sie von den Einschaltquoten. Und weil ich das Ganze so offensichtlich finde, habe ich mich ausgeklinkt.

Übrigens: Ein Leben lang hab ich geglaubt, es sei wichtig, politisch und gesellschaftlich auf dem Laufenden zu sein. Warum ich das geglaubt habe, ist mir heute schleierhaft. Ich vermöchte nicht einmal zu sagen, inwiefern diese vielen interessanten, jedoch wenig hilfreichen Informationen, die ich mir sehr lange täglich verabreicht habe, sich auf mein Leben ausgewirkt haben, ausser, dass sie mich abgelenkt haben. Wovon? Das weiss ich nicht mehr, das will ich jetzt rausfinden ...

Sunday, 23 February 2025

Die Historie von der Besatzung Palästinas

"Am 15. Mai 1948 war der jüdische Staat ausgerufen worden, ohne dass seine Grenzen festgelegt worden waren. Mein optimistischer Vater wertete dies als vielversprechendes Zeichen, das die Möglichkeit offenhielt, neben Israel einen arabischen Staat zu gründen, wie es im Teilungsplan ja auch vorgesehen war." Dass es nicht dazu gekommen ist, wissen wir; dass die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne gerückt ist, wissen wir auch. Wie es dazu gekommen ist, schildert Raja Shehadeh in diesem Memoir.

"Vor 1967 war das Westjordanland ein verarmtes unterentwickeltes Gebiet. So war schon der Bau eines einzigen Hauses ein Großprojekt, das über ein Jahr in Anspruch nehmen konnte. Die Idee, einen ganzen Hügel zu übernehmen, Häuser für eine Siedlung zu errichten und sie mit Wasser und Strom zu versorgen, erschien uns unvorstellbar." Eine Siedlung meint übrigens "eine Betonlandschaft, Reihen einheitlicher Häuser und geradlinige, vielspurige Autobahnen."

So sehr dies auch ein überaus aufschlussreiches Buch über die rücksichtslose israelische Siedlungspolitik ist (dass die israelischen Rechten gerade Trump zujubeln, der eine ethnische Säuberung des Gaza-Streifens plant, zeigt eine Geisteshaltung, die keines Kommentars bedarf), es macht auch mehr als nur deutlich, dass das Politische und das Private nicht wirklich auseinandergehalten werden können. "Lange Zeit dachte ich, es sei die Politik meines Vaters, die mich von ihm distanzierte. Jetzt weiß ich, dass ein wichtigerer Grund die Politik innerhalb der Familie war; der Kampf zwischen meinen Eltern um mich war für den Riss verantwortlich, der durch unser Haus ging, und nicht die politischen Turbulenzen außerhalb."

Der Autor von Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich, Raja Shehadeh, ist wie sein Vater, der 1985 von einem verurteilten Hausbesetzer ermordet wurde, Rechtsanwalt. "Siebenunddreißig lange Jahre nach dem Mord warte ich immer noch auf eine Klärung dessen, wer meinen Vater ermordet und warum die israelische Polizei die Akte geschlossen hat, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren.

Sein Vater hatte ihm Schränke voller Akten hinterlassen. Wollte er ihn etwa dazu bringen, über ihn zu schreiben. Der Sohn weigert sich, er hat sein eigenes Leben zu leben. Viele Jahre später lässt er sich dann doch darauf ein. Und entdeckt vielfältige Übereinstimmungen. "Ich hatte das Gefühl, mit meinem juristischen Widerstand gegen die israelischen Maßnahmen voranzuschreiten und Neuland zu betreten – noch ahnte ich nicht, dass mein Vater Jahre zuvor dasselbe getan hatte. Ich wusste auch nicht, dass ich von ihm den Gemeinsinn und das Verantwortungsgefühl geerbt ...". 

Der Umgangston ist indirekt bzw. respektvoll. "Oft begleitete mich die Frage, was mein Vater wohl dachte, wenn er das Bild seiner Mutter ansah – obwohl ich ihn nie dabei ertappt habe." Doch wie der Autor die Ehe seiner Eltern schildert, ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. So sehr sich der Vater auch bemühte, seiner stolzen Frau, die ihre Privilegien als selbstverständlich wahrnahm, konnte er nichts recht machen. Die pseudopsychologischen Erklärungen sind allerdings wenig überzeugend." Sie machte ihn ständig nieder. Da er keine Mutterliebe erfahren hatte, fehlte ihm der feste Glaube daran, dass er selbst ein guter Mensch war. Er musste sich vielmehr immer wieder aufs Neue beweisen und seine Existenz rechtfertigen."

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich erzählt neben der Familiengeschichte auch die Historie der systematischen Enteignung der Palästinenser, detailliert, sachlich, ohne Polemik. Die Geschichte dieser Aneignung erfolgte teils juristisch, teils durch die Schaffung von Tatsachen mittels Gewalt. Auch macht de Autor durch seine unaufgeregte Darstellung deutlich, dass vieles im Geheimen ablief, getrickst wurde, und gewalttätige radikale Kräfte einen weit grösseren Einfluss auf das politische Geschehen haben als man gemeinhin annimmt.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist in einem sachlich nüchternen Ton verfasst. Dass die Palästinenser seit dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 beständig getäuscht, belogen und hintergangen wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur wurden die Palästinenser systematisch von ihrem Land vertrieben, sie wurden auch daran gehindert, wieder zurückzukommen. Die schreiende Ungerechtigkeit, die hier dokumentiert wird, ist schwer zu ertragen und bestätigt C. G. Jungs Einschätzung, dass der Mensch die grösste Gefahr für den Menschen ist.

Über seine Gefühle, darüber, was ihn beschäftigte, redete sein Vater offenbar nicht. Und so muss der Sohn raten. "War es Wut oder Scham, die er empfand? Ich vermute, dass es eher Scham darüber war, wie sehr seine Generation dabei versagt hatte, ihre Heimat zu verteidigen, und dass es nie zur der Rückkehr kam, für die er so hart gearbeitet hatte. Offen Wut oder Bedauern auszudrücken, hätte ihn gedemütigt. Also behielt er seine Gedanken für sich und fuhr uns schweigend zurück nach Ramallah." Für die einen ist so ein Stolz würdevoll, für andere ist es die Unfähigkeit, die Realität anzunehmen, wie sie ist.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist ein vielfältig erhellendes Werk. Die Juristerei entbehrt ja nicht der Absurdität, geht sie doch davon aus, dass derjenige, der besser zu argumentieren weiss, im Recht sein soll! So beschreibt der Autor das Vorgehen: "Er begann, das Gesetz genau zu studieren und Schlupflöcher zu finden. Dann studierte er die Argumente und Präzedenzfälle, die zur Unterstützung der Verteidigung herangezogen wurden."

Aziz Shehadeh war ein idealistisch gesinnter Mann,  ein vehementer Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Im Wüstengefängnis sinniert er. "Es war ein Verrat an den Palästinensern, eine feige Verleugnung dessen, was Jordanien und die übrige arabische Welt nominell versprochen hatten: die Befreiung Palästinas. Deshalb hatte er alles daran- gesetzt, diese Politik in Frage zu stellen und herauszufordern, doch nur allzu oft fand er sich ohne Unterstützung wieder. Viele seiner Freunde hatten sich dafür entschieden, ihr Leben weiter- zuführen und sich auf ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer
Familien zu konzentrieren."

Geschichtsschreibung ist notwendigerweise auch immer Projektion. Wenn sich also der Sohn in die Gedankenwelt des Vaters versetzt, teilt er mehr über seine eigene Art des Denkens mit als über die seines Vaters. Obwohl: So verschieden voneinander sind die beiden nicht. "Welch eine Ironie, dachte er, von der harten Herrschaft der Briten befreit zu sein, nur um unter die nicht weniger harsche Herrschaft der von den Briten ausgebildeten jordanischen Armee zu geraten, deren loyaler und von Beduinen dominierten Kern gleichermaßen unnachgiebig war."

Raja Shehadeh hat mit Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich nicht nur seinem Vater ein Denkmal gesetzt, sondern auch aufgezeigt, wie ähnlich Vater und Sohn ticken, ganz so, also ob unser Weg vorgezeichnet sei.

Raja Shehadeh
Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich
Ein Memoir
Edition W, Neu-Isenburg 2025

Wednesday, 19 February 2025

Media Realities

,One rarely happens to be where world news, and sometimes history, is made. Yet, in such a situation I found myself in November 1989, when the Berlin Wall came down. I was sitting with a friend in a pizzeria when our waiter, an Italian, all of a sudden and totally excited, shouted: "Mauer auf, Mauer auf" — "Wall open, wall open." Being Swiss, and therefore not given to a spontaneous overflow of feelings, I calmly explained to my German friend that such a thing was not possible and that we should better stay and finish our meal. Only later, when the place was deserted and we were the only ones left, did my friend and I decide that maybe the waiter, despite being Italian and thus, most likely, given to wild exaggerations, might have been right and the wall had indeed been opened.

When we eventually arrived at one of the border crossings, it was four o'clock in the morning and, except for an occasional Easterner heading across, not much was going on anymore. In the nearby bars, however, emotions were running high — I remember men trembling and shaking, and with tears in their eyes. Impossible, not to be moved. The next day, the Easterners queued to get their 100 German mark "welcome money," they queued for bananas — quite obviously a rarity in the East — and the queued to get into the sex shops.

Such was, roughly, my experience of the wall coming down. I did, however, see one more wall coming down: this time on television. It was recorded live and, therefore, difficult to control — a young man from East-Berlin, strolling down the Kurfürstendamm in the Western part of town, was asked how he liked being in the free world? "It's the same as in the East," he replied, "West-German marks will buy you everything." Watching it happen on television, I had a feeling of excitement and fun, like being at a really good party. It certainly was very different from what I had felt the night before — then it had seemed somewhat incomprehensibly unreal whereas now, on television, I had the strange sensation that this was more real than what I myself had experienced.

What do we actually know about what is presently going on in, say, Afghanistan, or in Iraq? I've asked myself that question the other day while comparing the news of three different TV-channels that all reported the same occurrence differently — I hadn't the least clue which version, if any, was right. Worse, I did not even know which one I should trust. I still don't. During the war in Bosnia, Susan Sontag went to Sarajevo to experience for herself what war is like. "We can't imagine how dreadful, how terrifying war is — and how normal it becomes. Can't understand, can't imagine. That's what every soldier, and every journalist and aid worker and independent observer who has put in time under fire and had the luck to elude the death that struck others nearby, stubbornly feels. And they are right."

Of course, she's right. And it is hard to imagine somebody disagreeing with her, except for some — French, according to Sontag — intellectuals who — like Jean Baudrillard — claim "that images, simulated realities, are all that exists now," as she wrote in her essay "Looking at war." One surely wishes Monsieur Baudrillard a healthy toothache. Not all of us want to experience for ourselves what war is all about. I, for instance, have no desire at all to go to Baghdad and see for myself what is going on there.

Which leaves me dependent on the media. It is not a feeling that I like. There are, after all, some journalists I know from my school days — hard to think of anyone who would like to depend his views of the world on the judgements of a former classmate. Most of what we know about the world, we know from the media. And despite us not having terrible confidence in these media, we nevertheless build our views of the world on them, the German sociologist Niklas Luhmann wrote.

What I know of Arnold Schwarzenegger, I know from various TV-stations, and from some online-magazines. This is what I remember: he hails from a village near Graz, Austria, where people are proud of him; when he visits Austria, he regularly asks after a former love called Maria; he was Mister Universe; he is a multi-millionaire; he married into the Kennedy-family; he gropes woman; he took a degree in economics; he surrounds himself with knowledgeable professionals; he should not be underestimated.

So I have heard, and do in part believe it. Nevertheless, I'm amazed how largely unaffected by this media bombardment my views on Mister Schwarzenegger have remained — I continue to see in him what I used to see in him all along: an unusually ambitious man who has spent considerable time of his life in front of a mirror admiring his muscles. But, hold on, I almost forgot: Arnold Schwarzenegger is a movie-star, a Hollywood-star, and famous the world over for solving problems in no time at all. And that is, of course, what we all want our politicians to do.

I know, I know, life is not a movie — too bad, isn't it? — and I do know that politics and Hollywood have not much in common either — I'm not so sure about that, though. Yet, given the choice between Hollywood and every day politics, the majority of Californians obviously prefer their movie-version to the real-politik from Sacramento — it is likely that even Governor Schwarzenegger won't change that.

Copyright @ Hans Durrer / Soundscapes 2004

Sunday, 16 February 2025

Der Elefant im Zimmer

Auf Petra Morsbach bin ich durch einen Artikel von Herbert Riehl-Heyse in der Süddeutschen gestossen. Und da ich „den Riehl“ sehr schätze (ich hatte 1986 ausgewählte Texte von ihm unter dem Titel „Die Weihe des Ersatzkaisers und andere Geschichten“ herausgegeben), liess ich mich von seiner Begeisterung für Petra Morsbachs Schreiben gerne anstecken. Das liegt jetzt 25 Jahre zurück. Seither bin ich regelmässig gespannt, wenn ein neuer Titel von ihr erscheint. Und so gehe ich diesen Essay positivst gestimmt an – und werde nicht enttäuscht. Im Gegenteil: Ich werde vielfältigst aufgeklärt und unter anderem daran erinnert, dass Wahrheit konkret und Widerstand gegen Machtmissbrauch zwar schwierig, doch geboten ist.

An drei Fällen – einem Kirchenskandal, einem politischen Skandal und einem Fall, der an einer kulturellen Institution spielt – zeigt dieser Essay auf, wie es zu Machtmissbrauch und dessen weitgehendem Akzeptieren kommt. Vertuschungen und Verschleierungen sind keine Fehler von Machtsystemen, sondern gehören zu deren Kennzeichen. Gleichzeitig klärt Der Elefant im Zimmer darüber auf, wie Widerstand gelingen kann. Verblüfft hat mich übrigens, dass sich dieser lange Essay (325 Seiten) so flüssig liest.

Doch sind das nicht einfach Einzelfälle? Können sie überhaupt repräsentativ sein? Ja, können sie, argumentiert Petra Morsbach, denn die Mächtigen hätten „gegen den Kern ihres Auftrags“ verstossen. „Der Chefkleriker verletzte nicht etwa die Haushaltsdisziplin, sondern – neben den Strafgesetzen – die römisch-katholische Sexualmoral, ein Alleinstellungsmerkmal dieser Kirche. Der Untersuchungsausschuss vereitelte nicht einzelne Beweiserhebungen, sondern die Untersuchung selbst, für die er berufen worden war. Die kulturelle Organisation verstiess gegen die Freiheit und Würde der Kunst, die sie verteidigen sollte.“

Der erste Fall handelt von Kardinal Hans Hermann Groër und dessen Pädophilie, die zwar bekannt war, jedoch verschwiegen wurde, bis sich dann ein Opfer ‚outete‘ und der kirchliche Machtapparat aktiv wurde. Wie das vonstatten ging, schildert Petra Morsbach detailliert und differenziert. Dabei zeichnet sie das Bild einer Kirche, der es mehr um Machterhalt als um ihr Credo geht. So recht eigentlich ist das wenig verwunderlich (und trifft wohl auf alle Institutionen zu), doch es ist nicht so simpel, sondern um einiges komplizierter. Und auch gewollt juristisch überkomplex.

Schweigen, Ablenken, sich in allgemeine Floskeln retten, keinesfalls auf konkrete Fragen konkrete Antworten geben. Sprache dient oft nicht der Verständigung, sondern deren Verhinderung. Nicht immer, doch da, wo es um Machterhalt geht. Wie trickreich die Mächtigen beziehungsweise der Machtapparat vorgehen, erfährt man in diesem Buch. „Die Stabilität des Apparats hatte die oberste Priorität. Ihr wurden alle höheren Anliegen geopfert, sie war beinahe zum Selbstzweck geworden. Die missbrauchten Knaben waren so gesehen ein Kollateralschaden.“

Zu den Eigenheiten der katholischen Kirche gehört, dass die Priesterkandidaten ihren Bischöfen Gehorsam versprechen. Petra Morsbach kommentiert das mit ihrem eigenen Witz (der für mich zu den Gründen gehört, weshalb ich ihr Schreiben schätze): „Wer zu dieser Blanko-Erklärung bereit ist, muss eine überdurchschnittliche hierarchische Sehnsucht mitbringen, egal wie zynisch er vielleicht später wird.“ Man kann sich unschwer vorstellen, dass Machtkontrolle nicht zum Wesen der katholischen Kirche gehört.

Immer mal wieder stolpere ich über Sätze, die Grundsätzliches beleuchten (nichts, was in der heutigen Zeit wesentlicher wäre) und von einer realistisch-nüchternen Weltsicht zeugen, die sich nicht hinter einer dieser Pseudo-Fachdisziplinen versteckt, sondern einfach genau hinguckt und eigenständig denkt. „Wie können 17 intelligente, gebildete Bischöfe, die eine Elite religiöser und ethischer Bestimmung darstellen, als Gruppe denselben Automatismen unterliegen wie Konzernchefs, Hells Angels und Paviane? Bei den letzteren Gruppen gehört Dominanz sozusagen zum Anforderungsprofil. Aber bei Stellvertretern Christi? Und doch ist es so. Und es wäre fahrlässig, in Konflikten von etwas anderem auszugehen.“

Fall 2 handelt von Christine Haderthauer, der ehemaligen Chefin der bayerischen Staatskanzlei, und ihrem Mann, dem Arzt Hubert Haderthauer, die mutmasslich von der Arbeit straffälliger Psychiatriepatienten profitierten – drei Schlussberichte kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, nur einer von diesen war ernsthaft an der Aufklärung des Falles interessiert. Auch hier geschah, was als Muster im Umgang mit Widerstand von unten die Regel ist. „Wenn ein Führungskader öffentlich des Fehlverhaltens bezichtigt wird, verteidigt ihn seine Organisation reflexhaft, selbst wenn keiner an seine Unschuld glaubt – und gelegentlich bis zur Handlungsunfähigkeit, wie der Fall Groër zeigt.“

Doch ein Abgeordneter der Freien Wähler und sein Rechtsberater wehrten sich gegen den Versuch des Untersuchungsausschusses den Fall zu begraben und zur Tagesordnung überzugehen. „Man wollte, wenn man schon nichts erreichte, die Stunden im Ausschuss nutzen, um zumindest auf sinnvolle Weise nichts zu erreichen.“ Sie taten dies, indem sie ganz einfach möglichst genau beschrieben, was der Ausschuss tat beziehungsweise nicht tat. Eine Methode, die sich bewährt und „der Menschheit bedeutende Erkenntnisse beschert.“

Immer wieder kommt Petra Morsbach darauf zurück, dass Der Elefant im Zimmer nicht gesehen werden will. Der Elefant ist die Institution, genauer: die Macht, die um (fast) jeden Preis erhalten werden muss. Man schweigt, lenkt ab, redet über Verfahrensfragen, ereifert sich über Details, rettet sich in die Komplexität – zum Schutz derer, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Selten ist mir so deutlich aufgegangen, dass das Aufdecken von Missständen alle, die diese bislang nicht bemerkt oder toleriert haben, angreifbar macht. Kein Wunder, mauern sie.

Fall 3 handelt von den Erfahrungen der Autorin als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Funktionäre den in der Satzung statuierten Auftrag, „…. die Entwicklung der Künste ständig zu beobachten, in jeder (uns) geeignet scheinenden Weise zu fördern oder Vorschläge zu ihrer Förderung zu machen“ unter anderem mit der Vorschrift verunmöglichen: „Buchvorstellungen macht die Akademie nicht.“ Warum eigentlich nicht? Nur schon so zu fragen, gilt nicht als opportun, sich dagegenzustellen bedarf der Hartnäckigkeit – und darüber verfügt Petra Morsbach, der ein klarer Blick auf sich selber, gepaart mit Selbstironie, eigen ist.

Wie schon in den vorangegangenen Fällen, geht es auch hier um grundsätzliche Fragen. „Kann man gegen Machtmissbrauch überhaupt vorgehen, wenn er von einer jeweiligen Mehrheit geduldet wird? Wie aktiviert man die betrieblich und gesetzlich vorgesehenen Kontrollmassnahmen, wenn die Kontrollpersonen sich auf die Seite der Macht stellen?“ Und wie geht man mit dem Gehorsamsreflex um, der Gruppen zu befallen scheint, wenn ihr Chef angegriffen wird?

Wieso erhebst du dich über die ganze Institution?“ gehört zu den Fragen, die keine sind und einen der Überheblichkeit bezichtigen. Sie werden meist von Überheblichen vorgebracht, die sich selber nicht als solche sehen. Petra Morsbachs Antwort darauf lohnt allein die Lektüre dieses Essays. Mir jedenfalls ist selten so deutlich geworden, weshalb die Dichtung wichtig und wirkmächtig ist.

Der Elefant im Zimmer, ein Lehrstück über die Mechanismen der Macht, zeigt nicht zuletzt, dass wir in der irrigen Vorstellung leben, von rationalen Überlegungen geleitet zu werden, doch es sind unsere Empfindungen und Einbildungen, die uns selten bewusst sind, die das Sagen haben. Oft fühlte ich mich an einen Jura-Dozenten erinnert, der nach Zivilrechtsübungen meinte: Merken Sie sich: Das Schlimmste ist, nicht zu einem Entscheid zu kommen, Gründe dafür finden wir dann immer noch.

Dass dem nicht so sein muss, wir nicht automatisch zu Opfern unseres zwar gesellschaftlich gewünschten, doch nicht immer gesunden Gehorsams werden müssen, zeigt dieser Essay, dem es wesentlich darum geht, „zur Entmystifizierung der Macht und zur Enthysterisierung des Widerstands“ beizutragen, eindrücklich. Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced zitiert die Autorin James Baldwin.

Fazit: Ein überzeugendes Plädoyer für Zivilcourage, basierend auf genauem Hinschauen, eigenständigem Denken und einem aussergewöhnlichen Erzähltalent. Ein notwendiges und hilfreiches Buch!

Petra Morsbach
Der Elefant im Zimmer
Über Machtmissbrauch und Widerstand
Penguin Verlag, München 2020