Wednesday, 8 January 2025

Sanug Sabai

Jim regt sich mal wieder auf. Ich höre nur mit halbem Ohr hin, denn Jim regt sich ständig über irgendetwas auf. Diesmal über ein Barmädel, das im kurzen Rock, kaugummikauend auf Stöckelschuhen die Sukhumvit entlangstolperte. "Stöckelschuhe passen doch einfach nicht hierher. Das ist doch nicht die Fifth Avenue. Die gehören alle auf den Rücken eines Wasserbüffels, in einer Stadt haben die doch überhaupt nichts zu suchen. " Das Problem mit Jim ist, dass er immer so genau weiss, was sich gehört. Und wie üblich ist er nicht zu bremsen. Jim lebt seit vier Jahren in Bangkok und er weiss, wovon er spricht, er stammt selber vom Land.

Gestern hat er sich darüber aufgeregt, dass der Postbeamte die Marken alle an den äussersten Rand des Briefumschlags geklebt hat. Es versteht sich, dass Jin genau weiss, dass das typisch thailändisch ist und mit "first wave" zu tun hat. Er hat nämlich  vor kurzem "Powershift" von Alvin Toffler gelesen, der Agrarnationen als "first wave countries" bezeichnet. Was das wiederum mit den Briefmarken zu tun hat, ist mir schleierhaft.

Jim ist 47 und war Helikopterpilot im Vietnamkrieg, ein "super-trooper", der Generale geflogen hat. Darauf ist er stolz. "Wir waren in Vietnam, um die Ausweitung des Kommunismus zu stoppen", sagt er. Und jetzt will er über seine damaligen Erlebnisse ein Buch schreiben. Für die Vietnamesen. Gott, schütze uns vor diesen wohlmeinenden Amerikanern, denke ich so für mich.

Jim und ich sind Stammgäste in einem Hotel in der Sukhumvit Gegend ...

Für mehr siehe Warum rennen hier alle so? 

Wednesday, 1 January 2025

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024

Wednesday, 25 December 2024

Das Reich Gottes

Was mir Emmanuel Carrères Schreiben so sympathisch und wichtig macht, ist seine ernsthafte und aufrichtige Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Nicht nur, dass er sich Fragen stellt, die sich die meisten gar nie stellen ((etwa: Woran glauben Christen heutzutage wirklich?), sondern sie auch zu beantworten sucht. Und dann den Leser daran teilhaben lässt, wie er vorgegangen ist, was für Zweifel und Schwierigkeiten ihn dabei begleitet haben, wie er um Erkenntnis, ja, um Wahrheit ringt.

„Von welchem Standpunkt aus sprichst du?“, wurde man in den politischen Diskussionen der 68er gefragt, eine Frage, die Carrère nach wie vor relevant findet. „Ein Gedanke berührt mich eher, wenn er von einer konkreten Stimme getragen wird, wenn er von einem bestimmten Menschen ausgeht und ich weiss, welchen Weg er sich in diesem Menschen gebahnt hat.“ Das charakterisiert auch sein eigenes, sehr persönliches Schreiben.

Carrère schreibt spannend, scharfsinnig, selbst-analytisch und ehrlich, ja man glaubt zu spüren, dass er in seinem tiefsten Inneren glaubt, dass die Wahrheit uns frei machen werde. Mühe hat er mit denen, die sich weniger ernsthaft bemühen als er selber: „... dieses bürgerliche, provinzielle, unhinterfragte Christentum der Apotheker und Notare, das ich gelernt habe, mit nachsichtiger Ironie zu betrachten, stösst mich plötzlich ab.“

Sehr streng geht er vor allem mit sich selber um und ohne Selbst-Ironie würde er wohl auf der Stelle dem Wahnsinn anheimfallen. „Ich gehe für eine Woche im burgundischen Benediktinerkloster Pierre-Qui-Vire in Klausur. Vigil um 2 Uhr morgens, Laudes um 6, Frühstück um 7, Messe um 9, Yoga in meiner Zelle um 10, Johannes lesen und kommentieren um 11, Mittagessen um 13 Uhr, Waldspaziergang um 14 Uhr, Vesper um 18, Abendessen um 19, Komplet um 20, Schlafengehen um 21 Uhr. Als guter Zwangsneurotiker bin ich ich begeistert. Ich lasse nichts davon aus.“

Sein Vorgehen (und sein Umgang mit sich selber) hat obsessive, ja manische Züge; von einem Extrem springt er ins nächste. Wenn das Desinteresse am Gebet sich breit macht, muss man nicht gerade dann beten, wie die Mystiker meinen?, fragt er sich. „Aber genau jetzt kommen mir selbst die Ratschläge der Mystiker wie Gehirnwäsche vor, und der Mut scheint mir genau darin zu bestehen, ihnen nicht mehr zu folgen, sondern mich stattdessen der Wirklichkeit zu stellen.“ Nein, das ist nicht Carrères Schussfolgerung, so fängt seine Beschäftigung mit Paulus an.

„Ich bin zu dem geworden, der zu werden ich so sehr befürchtet hatte. Ein Ungläubiger, ein Agnostiker ...“, notiert er. Doch jetzt, „fünfzehn Jahre nachdem ich meine Hefte mit den Evangelien-Kommentaren in einen Karton gepackt hatte“, macht er sich auf, sich „diese Texte, das heisst das Neue Testament, ein weiteres Mal anzusehen.“

Die Geschichte von Paulus und Lukas, die er nachzeichnet, bringt er auch in Zusammenhang mit der heutigen Zeit und macht damit klar, dass das Geschilderte nicht einfach nur historisch, sondern ganz grundsätzlich von Bedeutung ist. „Er war nicht mehr derselbe, denn er war endlich sich selbst“, ein Satz, der Carrère Paulus zuschreibt, ist die Art von Erlösung nach der wir uns zwar sehen, doch gegen die wir uns aus Angst sträuben und die wir erst begreifen, wenn wir sie erfahren haben.

Die „kleine jüdische Sekte, die einmal das Christentum werden sollte“, war imstande zu Handlungen anzustiften, „Handlungen – und nicht nur Worten – , die dem normalen menschlichen Verhalten zuwiderlaufen. Menschen sind nun mal so gestrickt, dass sie ihren Freunden Gutes wollen – und selbst für die Edelsten unter ihnen ist schon das keine Kleinigkeit – und ihren Feinden Böses. Sie sind lieber stark als schwach, lieber reich als arm, lieber gross als klein, lieber Herrscher als Beherrschte. So ist es eben, das ist normal, und niemand hat je behauptet, das sei schlecht. Weder die griechische Weisheitslehre noch die jüdische Frömmigkeit. Doch nun sind da Menschen, die nicht nur das Gegenteil davon behaupten, sondern es auch tun ...“. Das ist revolutionär, ja, revolutionärer geht es kaum. Kein Wunder, wird es so selten praktiziert. Und natürlich wurde Paulus sowohl angefeindet als auch nicht ernst genommen.

„Das Reich Gottes“ ist ein eindringliches, witziges und höchst lehrreiches Dokument der Selbsterkundung, das nicht zuletzt durch die breite Neugier des Autors beeindruckt und anregt, die von Philip K. Dick, Hare Krishna und Lucky Luke zum auch heute noch aktuellen Coaching des Seneca (der, wie viele Lehrer, offenbar nicht wirklich lebte, was er predigte) reicht.

Ein grossartiges Buch!

Emmanuel Carrère
Das Reich Gottes
Matthes & Seitz, Berlin 2016

Wednesday, 18 December 2024

In Annemasse und Genf

 Das Einkaufszentrum, wo ich ein Verbindungskabel fürs Handy kriegen könne, sei für einen Spaziergang recht weit, sagt man mir. Ich mache mich trotzdem auf den Weg, doch die Strassen, durch die ich gehe, sind wenig attraktiv und so schwenke ich, wie ich mir vorstelle, wieder Richtung Zentrum und lande in einer modernen Fussgängerzone mit kleinen Geschäften und Cafés. Ein paar Strassen weiter wird die Strasse aufgerissen, in den engen Gassen sehe ich einen Handyladen und kaufe mein Kabel, ein Drittel günstiger als in der Schweiz.

Jetzt, sagte mir letzthin eine Freundin, das Jetzt werde ihr immer wichtiger. Seither geht mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Nichts schwieriger als in diesem Jetzt zu sein. Was mich auch seit Tagen begleitet: Das Leben sei vor allem traurig, von einigen wenigen Glücksmomenten durchbrochen. So oder ähnlich habe ich das von Françoise Hardy gehört.

Beim Betrachten meiner Fotos könne man sogar eine Stadt wie Annemasse schön finden, meinte die junge Rezeptionistin "meines" Hotels.

   17. Juni 2024

           Was man auf der Foto nicht sieht: Ich bin in die Hocke gegangen, um die Aufnahme zu machen. Als ich anschliessend aufgestanden bin, ist mir derart schwindelig geworden, dass mir im wörtlichen Sinne hören und sehen verging. Die Mischung aus Unwohlsein und Angst dauerte nicht lange, doch war ich an diesem Abend derart müde, dass ich mich bereits um halb neun ins Bett legte und bis morgens um sieben schlief.

Auf der Rückfahrt nach Sargans bin ich am Genfer Bahnhof ausgestiegen, zum See spaziert, habe den Jet d'Eau und anderes fotografiert. Dann ging ich durchs Paquis Quartier, das mir nicht unvertraut ist, doch kam ich an Orten vorbei, die neu für mich waren, bis ich, mir schien ein Instinkt am Werk, plötzlich die Strasse überquerte und in eine Seitenstrasse einbog. Die kannte ich doch! Hatte da nicht einst Laurence vorübergehend gewohnt? Rue Sismondi, sagt das Strassenschild. Ich hatte mich nicht getäuscht.

Kurze Zeit später: Der Gedanke war mir nicht neu, doch selten erschien er mir so klar wie auf einer Parkbank vor der Kirche beim Bahnhof in diesem Sommer 2024: Wie kann man bloss ein Leben lang dem Geld hinterher rennen, es zum Gott machen? Fantasieloser und hohler geht kaum.

Wie beschränkt muss eigentlich jemand sein, der sein Leben am Haben orientiert? Das er (oder sie) einmal eh nicht mitnehmen kann. Doch tun wir das nicht alle? Und bewundern und beneiden die sogenannten Erfolgreichen? Ja, wir alle sind einer Massenpsychose aufgesessen. Und sehen das natürlich überhaupt nicht so, ganz im Gegenteil, wir halten das für typisch menschlich. Kein Grund also, sich davon zu befreien.

Und so schwafeln wir von Identität, davon, dass es wichtig sei, jemand zu sein. Obwohl: Gelegentlich wissen wir schon, dass wir uns was vormachen. Und dass das Einzige, was uns fehlt, das Gefühl ist, am Leben zu sein.

Sunday, 15 December 2024

Die Nachtmaschine

Mit "Alles ist nur einmal" ist der Einstieg in dieses Buch überschrieben – ich fühle mich sofort gepackt von der einfühlsamen und berührenden Schilderung des Lebensendes von Matthyas Jenny (verfasst von seiner Tochter), den René Schweizer (laut Wikipedia Schriftsteller, Aktionskünstler und Selbstdarsteller) zu den Menschen zählte, die "verzweifeln Tag für Tag aufs Neue, ihr ganzes Leben lang. Sie sind gezeichnet, auserwählt und immer an der Grenze der absoluten Wahrnehmung."
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Die Nachtmaschine zu lesen, bedeutet, mich auf eine Zeitreise zu begeben. So war mir etwa der Besitz von "Gasolin 23", der von Carl Weissner, Jürgen Ploog und Jörg Fauser gegründeten Alternativzeitschrift, Ausweis von Verbundenheit mit einer Szene, die definitiv anders war. Für Jürgen Ploog war sie "eine vitale Alternative zur ungesunden Sterilität dessen, was hier so an handelsüblicher Literatur produziert und gefördert wurde." Darüber hinaus stosse ich auf das von Matthyas Jenny initiierte Poesietelefon, von dem ich zwar gehört hatte, mit dem ich jedoch nicht vertraut war, und erfahre nun, was es damit auf sich hatte. "Ein Lastwagenfahrer hält an einer Telefonkabine an, steigt aus und wählt die Nummer des Poesietelefons. Mitten im alltäglichen Leben sollte uns das Gedicht einen Moment aus dem Trott herausholen, uns für die Dauer eines Gedichts in die Welt der Assoziationen und der Sprachkunst entführen." Wie schön, wie aufmerksam, wie wunderbar!

"Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben" heisst der Untertitel (dass ein Leben literarisch sein kann, übersteigt meine Vorstellungskraft) dieses von Zoë und Caspar Jenny verfassten Werkes, das sich nicht nur gut liest, sondern vieles bestens nachvollziehbar aufschlüsselt, was den Verleger der "Nachtmaschine" ausmachte. Eingespannt in die Lügengeschichten seiner Eltern sagte er sich vom bürgerlichen Leben los. "Er war ein Kind seiner Zeit, das Leben war Abenteuer, Risiko, Wagnis." Dass er in den letzten Jahren vor seinem Tod am 11. Oktober 2021 erklärte, "dass er immer eine 'normale' Familie hätte haben wollen", macht nicht zuletzt deutlich, dass nicht unsere bewussten Vorstellungen lebensleitend sind, sondern das, was in uns angelegt ist und heraus will.

Matthyas Jenny war ein Büchermensch. Verleger, Schriftsteller, Buchhändler; alles, was irgendwie mit Büchern zu tun hatte, war ihm vertraut, von der Auslieferung zur Buchmesseorganisation. Ein neugieriger Mann, mit einer menschenfreundlichen, humanistischen Lebenshaltung. "Karrieristisches Kalkül war ihm fremd, und damit provozierte er jene, die auf Berechnung und Egoismus setzen."

Der Verlag Nachtmaschine war ein Undergroundverlag, Ausdruck der Gegenkultur. Und diese stand für die Unangepassten, das intensive Leben. "Die Welt gehört den Wahnsinnigen", fasste Matthyas Jenny diesen Geist treffend zusammen. Sein Sohn führt aus: "Der Underground schreibt gegen etwas an. Gegen die Monotonie, die Langeweile, die Routine, das Festgefügte, das erstarrte Leben, das sich behäbig und wichtigtuerisch reproduziert. Das Aufbrechen dieser Lebensroutine, das Infragestellen, das ist das Experiment des Beats, das ein Scheitern so selbstverständlich in sich einschliesst wie den Sieg, den Sieg eines gelebten Lebens, ohne Wenn und Aber." Genau so isches!

Eine Biografie ist natürlich immer auch ein Zeitdokument und dieses liest sich besonders spannend, wenn man diese Zeit grössten Teils selber erlebt hat sowie wesentliche Vorlieben des Porträtierten teilt. Ständig auf vertraute Namen zu stossen, die einer längst verschwundenen Welt anzugehören scheinen (auch wenn die Betreffenden noch leben), lässt einen gelegentlich wehmütig werden. Mir geht es so, wenn ich etwa von mir persönlich nicht bekannten und doch irgendwie vertrauten Menschen lese, wie Benno Käsmayr vom Maro Verlag (wegen meiner ersten Bukowski Bücher) oder von Hansjörg Schneider (wegen seines Buches über seine verstorbene Frau).

Zoë beschreibt den Vater aus ihrer Sicht, Caspar aus seiner; beide zitieren viel aus des Vaters veröffentlichten und unveröffentlichten Texten. Matthyas Jenny war nicht nur ein Träumer und Freigeist sowie ein Geschöpf seiner Zeit, in der das Reisen und die Ungebundenheit für viele zentral war (für die meisten allerdings nicht), sondern in jungen Jahren auch alkoholsüchtig, also selbstzerstörerisch. "Er kannte den Rausch, er kannte den Alkohol, er kannte die Drogen. In seinen letzten vierzig Jahren blieb es aber trocken, rührte nicht ein einziges Glas mehr an."

Auch die umfassendste Biografie müsse ein Fragment bleiben, schreibt die Tochter. Zweifellos. Wobei die Biografie, die Kinder über ihren Vater schreiben, eine sehr besondere ist, was wesentlich darin begründet ist, dass die Kinderperspektive einzigartig intensiv ist. So ist etwa Zoës Schilderung der Überquerung des Julierpasses im Winter derart gut gelungen, dass man sich als Leser zusammen mit Vater und Tochter ängstigt.

Für mich das Beeindruckendste (und auch Erstaunlichste) an diesem Buch ist, dass Zoë und Caspar Jenny, geboren 1974 respektive 1971, auch ein überzeugendes Porträt einer Zeit geliefert haben, für die sie grösstenteils zu jung waren, um sie wirklich wahrzunehmen. Casper formuliert es einmal so: "Städte, Landschaften Wohnungen, Strassen repräsentierten die Topografie seiner Literatur. Das Interessante liegt in der Welt, nicht in einem selbst. Das ist das Amerikanische an dieser Prosa, das Setting, die Szenerie, die Stimmung, die ausdrückt, was in den Menschen vor sich geht." Zoë schreibt: "Schreiben war bei ihm immer auch Schreiben gegen den Schmerz, der Versuch mit Worten Ordnung zu schaffen, immer fragend, nie wissend. Er hatte sich bis zum Schluss einen staunenden, unverstellten Blick auf die Welt bewahrt."

Fazit: Berührende Erinnerungen, die eine Lebenshaltung ehren, die selten ist.

Zoë Jenny / Caspar Jenny
Die Nachtmaschine
Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben
Zytglogge, Basel 2024

Wednesday, 11 December 2024

Wer stört, muss weg!

Meine erste Reaktion auf diesen Titel war: Das ist doch klar! Schliesslich will jedes System möglichst reibungslos funktionieren. Warum sollten Universitäten da anders sein? Sicher, sie definieren sich anders, behaupten, sie stünden für Meinungsfreiheit. Doch wer mit auch nur ein bisschen Lebenserfahrung glaubt eigentlich den Selbstdeklarationen, den Absichtserklärungen, der Propaganda? Man lese etwa, was Nestlé oder die CIA von sich behaupten.

Andererseits, und davon handelt Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus der Universität von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel, beide Universitätsprofessorinnen, ist eine Universität eben doch etwas anderes als ein Industrieunternehmen oder ein Geheimdienst, denn da wird Wissenschaft betrieben und das meint: Das Hervorbringen unangenehmer Wahrheiten ist ihre Aufgabe, die Werturteilfreiheit Pflicht. Die Realität sieht anders aus? Sowieso. Heute kommt die Meinung zuerst, die Ideologie macht sachliche Kontroversen unmöglich. So habe ich in Esther Bockwyts WOKE gelesen, dass das Bildungsministerium in Oregon, USA, den Lehrern ein Training in "Ethnomathematik" nahelegte. "Lehrer sollten im Unterricht darlegen, dass Mathematik dazu dient, kapitalistische, imperialistische und rassistische Ansichten zu unterstützen."

Als Heike Egner und Anke Uhlenwinkel begannen Daten zu sammeln (sie wollten untersuchen, ob es sich bei den Entlassungen von Hochschuldozenten um Einzelfälle handelte) gingen sie davon aus, "dass eine Entlassung selbstverständlich erst nach Abschluss adäquater Prüfverfahren erfolgt sein wird. Dem ist nicht so." Mich selber erstaunt das wenig, vielmehr fühlte ich mich an die Geschichte des Herausgebers des "Spectator" erinnert, der in Tony Blairs innerem Kreis Mäuschen spielen durfte, als es um die Entscheidung ging, ob Grossbritannien an der Seite der USA in den Irak einmarschieren sollte – weder wurden Expertenmeinungen eingeholt, noch wurde debattiert. Der Entscheid war längst gefallen, es ging nur darum, die Begründung nachzuliefern. 

Die Freiheit der Wissenschaft ist ein Grundrecht, also dauerhaft, beständig und jedem anderen Recht vorgeordnet. Mit anderen Worten: Die Wissenschaftsfreiheit ist verfassungsrechtlich garantiert. "Die Wissenschaft selbst ist keine demokratische Angelegenheit – die Wahrheit lässt sich eben gerade nicht durch Zustimmung einer Mehrheit finden, sondern stellt sich möglicherweise genau als das heraus, was von den Meisten als undenkbar empfunden würde."

Dass ihr Wissenschaftsverständnis "eine Idealisierung darstellt, eine Imagination, die sich auf diese Weise im eigenen Erleben nie hat realisieren können", wissen die beiden Autorinnen. Dass sie trotzdem darauf beharren, ehrt sie nicht nur, sondern gehört unterstützt, auch weil das Ringen um die Wahrheit zu den wesentlichsten Bemühungen der menschlichen Existenz gehören sollte. Zudem: So recht eigentlich verdanken wir der Wissenschaft jeden Fortschritt der Menschheitsgeschichte.

Die Untersuchungen von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel ergaben, dass die angegebenen Gründe für die Entfernung in der Person des Professors oder der Professorin liegen. Ein Beispiel: Liefert ein Student eine ungenügende Leistung, kommt es regelmässig zu Konflikten, da der Student den Fehler nicht bei sich sieht, sondern in der Böswilligkeit der Professorin. "Die Psychologie kennt dieses Muster als 'selbstwertdienliche Verzerrung': Erfolge schreibt man sich selbst zu, während Misserfolge an anderen oder an den Umständen liegen." Das weiss man allerdings auch ohne Psychologie.

"Pointiert formuliert, wird hier ein 'Recht auf Zertifikat' eingefordert." Diese Anspruchshaltung ist typisch für unsere Zeit; Rechte zu haben ist uns selbstverständlich, Pflichten eher weniger. Jedenfalls in der westlichen Welt. Meine Erfahrung in China war ganz anders, dort hat man nur Pflichten.

Ist es vielleicht eine Frage der Generationen? Darauf eine klare Antwort zu geben, wäre zwar unwissenschaftlich, doch vermutlich trotzdem wahr. Fest steht, dass die Generation Y (Geburtsjahrgänge ca. 1980 bis 1995) erwartet, bei ihrer Karriereorientierung unterstützt zu werden, "was gleichzeitig auch bedeutet, dass die Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln zurückgewiesen wird." Besser kann man das heutige Selbstverständnis vieler (und nicht nur dieser Generation) kaum charakterisieren.

Heike Egner und Anke Uhlenwinkel gehen noch auf viele andere Aspekte ein, die für mein Dafürhalten letztlich alle Indizien für ein grundsätzliches Phänomen liefern, das über die Wissenschaft hinausgeht und für die ganze Gesellschaft relevant ist. "Es scheint, als müssten wir Gesellschaft neu erfinden. Und dabei auch ganz grundsätzlich die Frage stellen, welche Wissenschaft wir wollen." Eine andere Variante wäre, den Menschen neu erfinden, indem wir uns auf Charakterbildung konzentrieren. Ob man da allerdings einen Konsens findet, ist heutzutage mehr als fraglich,

Heike Egner / Anke Uhlenwinkel
Wer stört, muss weg!
Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten
Westend, Neu-Isenburg 2024

Sunday, 8 December 2024

Amerika 1930

Dieses Buch handelt von dem fast sechsmonatigen Aufenthalt von Otto Scheid 1930 in den Vereinigten Staaten. Otto Scheid, 1901 in Maria Enzersdorf bei Wien geboren, studierte an der TU Berlin-Charlottenburg Metallurgie und zeigte sich so begabt, dass sein Professor ihn auf seine Amerika-Tournee mitnehmen wollte. Da der Professor zur Abfahrt aus Bremerhaven nicht erschien, trat Otto die Reise alleine an, allerdings ohne ein Wort Englisch zu können.

1930, das war die Zeit der great depression, wie die Weltwirtschaftskrise in Amerika genannt wird, die gekennzeichnet war durch eine gewaltige Arbeitslosigkeit. Otto Scheid schreibt kaum davon, er war selber auf Arbeitssuche und schildert diese sehr amüsant.

"Was die Zeit um 1930 so bedeutungsvoll macht, sowohl in Europa, in Amerika wie auch weltweit, sind die vielen Veränderungen durch den fortschreitenden Erfolg von technischen Erfindungen und die darauf folgenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Otto beschreibt in seinen Briefen genau diese dynamischen Spannungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft.", so Andreas Maleta im Vorwort.

Andreas Maleta war Korrespondent in Ägypten und Indien (für wen erfährt man nicht), lebte später in den USA und erhielt vor einigen Jahren die Briefe von Otto Scheid zur Ansicht. Diese Briefe bilden die Grundlage zu diesem Buch. Amerika 1930 ist jedoch weit mehr als eine Zusammenstellung dieser Briefe, denn Autor Maleta liefert nicht nur Kontext, sondern zeigt auch erhellende Übereinstimmungen von Scheids Eindrücken mit den Reiseberichten von Alexander Roda Roda, Egon Erwin Kisch und Vicki Baum.

Scheids Ankunft gestaltete sich katastrophal; ihm fehlte die nötige Kaution von US$500, von der er gar nicht wusste, dass er sie beizubringen hatte, und so landete er auf Ellis Island, wo die Ankömmlinge als Eindringlinge behandelt und ihnen klar gemacht wurde, dass die Amis die Grössten und Besten sind, und es ein Privileg ist, ins Land gelassen zu werden.

Es versteht sich: Wir alle gehen mit Erwartungen durch die Welt, bewussten und unbewussten. "Entgegen meiner Erwartung sind die Menschen hier recht unfreundlich und stellenweise auch ziemlich ungastlich. Alles geht hier nur um den Dollar, Dollar und wieder Dollar! Es ist ein sehr angestrengtes Leben, das die Leute hier führen." Als er später Kuba besucht, notiert er: "Eine recht kämpferische Bevölkerung, aber im persönlichen Kontakt von einer geradezu lächerlichen Höflichkeit, besonders auffallend, wenn man sich an amerikanische Sitten schon etwas gewöhnt hat."

Was ihm  auch gleich zu Beginn auffällt (es sind zumeist diese ersten Eindrücke, die besonders aufschlussreich sind): Dass niemand zu Fuss geht, dass niedrigste Arbeiten genau so geschätzt werden wie höhere, dass alles immer ganz schnell gehen muss. Doch er bemerkt auch: "Alles geht hier eilig, alles im D-Zug-Tempo und trotzdem haben die Leute hier immer zu allem Zeit. Ich glaube, die Eile ist mehr Mache und zur Gewohnheit geworden als tatsächliche Notwendigkeit."

Die für einen gebildeten Europäer eher ruppigen Umgangsformen der Amerikaner behagen ihm nicht. Am Kaugummikauen stösst er sich besonders. "Die allgemeine Volksnahrung ist der Kaugummi, dieser ist in der Subway besonders beliebt. Mit geschlossenem Mund murmelt jeder irgendwas Unverständliches vor sich hin oder schaut in seine Zeitung – auch die Frauen."

Vieles an Amerika ist Show, der wichtigste Export des Landes Hollywood Und so klaffen Vorstellung und Realität oft auseinander. "Die Freiheitsstatue ist anscheinend auch nur zum Anschauen von Frankreich geschenkt worden, den inneren Sinn haben die Amerikaner nicht kapiert."

Dass es damals schon Fastfood Restaurants gab, von Scheid als Schnellspeisehäuser bezeichnet, erstaunt mich. Ebenso, dass es schon damals amerikanische Sitte war, vermeintliche Belästigungen sofort bei der Polizei zu melden. "Es gibt hier viele Frauen, die von Erpressungen dieser Art leben." Verblüfft hat mich auch, dass die Columbia University in New York von einer Stiftung aus Banken finanziert wurde.

"Nun ja, in Amerika erzählt man bei allem immer, was es gekostet hat." Und so notiert er, was die Dinge kosten (in Klammern wird jeweils angegeben, wieviel das heute wäre), stellt ständig Vergleiche an, wie das natürlich alle tun, jedoch selten jemals so sympathisch und unprätentiös. In Cleveland notiert er: "Mein Häuschen ist umgeben von einem Garten, ich wohne da im 1. Stock, nicht mehr im zehnten, sehe sogar ins Grüne, wo Palmen wachsen und im Schatten schwarze Frauen Wäsche glätten. Das könnte auch in Afrika so sein, war zwar nie dort, jedenfalls ist es hier ebenso heiss."

Dieses reich bebilderte Amerika 1930 beleuchtet ganz viele Aspekte und geht dabei weit über ein historisches Dokument hinaus, denn vieles, was Otto Scheid einst wahrgenommen hat, gilt auch heute noch, wenn auch nicht nur in Amerika. "Das ganze Gesellschaftsleben trägt den Charakter hinterlistiger Verlogenheit: nach aussen hin feudal vornehm." Was im Übrigen ganz besonders für dieses Werk spricht, ist, dass der Autor sich herrlich unverblümt ausdrückt – zum Diplomaten hätte er wenig getaugt, dafür war er viel zu "normal". Man ist froh drum!

Andreas Maleta
Amerika 1930
ZEITENWENDE
Reise zur einer Weltmacht im Entstehen
Die Beobachtungen eines Wieners aus Berlin
in der Weltwirtschaftskrise
Ibera Verlag, Wien 2024