Wednesday 6 November 2024

Tokio Express

In der Bucht von Hakata werden die Leichen eines jungen Paares aus Tokio gefunden. Alles deutet auf einen Doppelselbstmord hin. Doch dann stösst Kommissar Torigai auf Ungereimtheiten. 

Autor Seichō Matsumoto, laut der Londoner Sunday Times "die japanische Antwort auf Agatha Christi", bedient sich einer einfachen und präzisen Sprache, die eine wunderbar nüchterne Atmosphäre kreiert, der etwas Magisches anhaftet. Kein Schnickschnack, keine Poesie, keine Bedeutungshuberei, sondern Klarheit. Dazu kommt ein erfreulich illusionsloser Blick auf die Welt. "Natürlich ist das absurd (dass ein Beamter wegen Fehlverhaltens befördert wird), aber Behörden sind absurde Orte."

Kommissar Torigai ahnt nicht etwa, dass etwas nicht so richtig stimmt, sondern stellt sich Fragen, die sich auf Lebenserfahrung gründen, die er dann beim Befragen seiner eigenen Tochter überprüft. Der Mann ist von Sachlichkeit geleitet und nicht etwa von einem sechsten Sinn.

Die junge Frau war geschieden und arbeitete als Serviererin, ihr Liebhaber war in einem Ministerium angestellt, das wegen Korruptionsvorwürfen in die Schlagzeilen geraten war. Doch wie kam es, dass die beiden die fünf Tage vor ihrem gemeinsamen Tod nicht gemeinsam verbracht hatten? Waren sie überhaupt ein Liebespaar gewesen?

Kommissar Kiichi Mihara von der Kriminalabteilung 11 der Polizei Tokio, die sich mit Wirtschaftskriminalität befasst, interessiert sich auch für den Doppelselbstmord. Torigai und Mihara tauschen sich über den Fall aus, wobei ihnen, da beide genuin neugierig und der Sache verpflichtet sind, bisher Nicht-Beachtetes auffällt. Die Herausforderung liegt im genauen Hinsehen, die Schlüsse daraus ergeben sich dann fast von selbst.

Genaues Hinsehen, und das macht Tokio Express deutlich, besteht darin, sich seiner eigenen Voreingenommenheit bewusst zu werden und alsdann entsprechend neutral die Dinge anzugehen. Dabei muss das Augenmerk den kleinen Dingen gelten. Wie sagen doch die Zen Buddhisten so treffend: Es gibt nur kleine Dinge.

Es ist diese schlanke Sprache, bar jeder Effekthascherei, die einerseits diesen Kriminalroman auszeichnet, und andererseits darüber hinausgeht, da sie grundsätzliche Stimmungen von universeller Bedeutung zu vermitteln weiss. "Unter den Leuten im Café erkannte er ein paar bekannte Gesichter. Alles war wie sonst, das Leben war weitergegangen wie immer, auch auf der Ginza dort draussen hinter der Scheibe. Nur er, Mihara, fühlte sich, als wäre er fünf oder sechs Tage aus dieser bekannten Welt gestossen worden. Keiner wusste, was ihn in dieser Zeit beschäftigt hatte, und es interessierte auch niemanden. Das war zwar natürlich, aber er kam sich seltsam einsam vor."

Tokio Express, diese gut erzählte Geschichte aus dem Jahre 1958, lehrt uns auf spannende und unterhaltsame Art und Weise uns mit unserer Voreingenommenheit zu konfrontieren – auf dass wir die Dinge so sehen wie sie sind. 

PS: Was übrigens auch für diesen Band spricht, ist das gut in der Hand liegende Format sowie die ansprechende Umschlagsgestaltung, denn schliesslich ist das Lesen auch eine sinnliche Erfahrung.

Seichō Matsumoto
Tokio Express
Kriminalroman
Kampa Verlag, Zürich 2024

Sunday 3 November 2024

Die Lichtwandler


Eines schönen Tages, erschöpft von der Beschäftigung mit Klimakatastrophen, wendet sich die Journalistin Zoë Schlanger den Pflanzen zu, entdeckt eine ihr bis anhin unbekannte Welt und verliebt sich in sie.

Die Lichtwandler ist die Geschichte einer Faszination. Die Neugier und Begeisterung der Autorin ist ansteckend, denn wer sich intensiv mit der Natur auseinandersetzt bzw. sich auf sie einlässt, kann  Momente erleben, die selten und manchmal lebensverändernd sind. "Ein Aufflackern von Wirklichkeit." Mich erinnert dies auch an eine Beschreibung von Satori, das zur Folge haben kann, dass man zwar immer noch den gleichen Berg anschaut, doch plötzlich mit ganz neuen Augen.

Zoë Schlanger beginnt sich auf das Verhalten von Pflanzen zu fokussieren. Können sich Pflanzen überhaupt verhalten? Einige populärwissenschaftliche Bücher behaupten, sie können auch hören und fühlen. ja, sie seien intelligent. Die Wissenschaften reagierten ablehnend. Doch dann, möglicherweise infolge neuer Technologien, bekam die Vorstellung, Pflanzen seien weit komplexer als wir uns das bislang vorgestellt haben, neuen Auftrieb.

Die Pflanzen für sich zu entdecken, ist das Eine, diesen Pflanzen nachzuforschen das Andere. Das liegt daran, dass sich in jedem Wissens- und Forschungsfeld meist ganz viele Menschen tummeln, mit teils sehr gegensätzlichen Vorstellungen. Mit Begriffen wie "Pflanzenverhalten" und "Pflanzenintelligenz", so lernte Zoë Schlanger schnell, galt es vorsichtig umzugehen.

Mir selber ist dieses Phänomen vertraut. Als ich mich vor Jahren in das Nachdenken über Fotografie vertiefte, voller Neugier und Enthusiasmus, merkte ich bald einmal, dass ich in diesem Feld bei den sogenannt Etablierten nicht willkommen war, allerdings gab es auch einige. eigentlich immer ausserhalb der Institutionen, die von genuinem Interesse geleitet waren und mit denen ich bestens klar kam. Mir war das zu blöd, ich gab auf; Zoë Schlanger arrangiert sich, mit Gewinn.

Wir seien pflanzenblind, so die Autorin, können oft Buchen nicht von Birken, Weizenähren nicht von Roggenähren unterscheiden. Das liegt an der europäischen Art zu denken, das geprägt ist vom Teilen und Unterscheiden. Andere Kulturen denken anders. "Bei den Canela, einer indigenen Gruppe in Brasilien, sind Pflanzen Teil der Familienstrukturen (...) Die Pflanzen seien die 'jüngeren Brüder' der Welt, geschaffen gleich nach den 'älteren Brüdern', den Kräften des Windes, des Gesteins, des Regens, des Schnees und des Donners."

Es sind unsere Prägungen, die unsere Wahrnehmung und somit unser Leben bestimmen. Doch diese Prägungen sind nicht in Stein gemeisselt, sie können sich ändern. So begann man in den 1960ern "'Geist' und 'Verstand' als etwas zu begreifen, dass man wissenschaftlich untersuchen konnte, indem man nicht das Gehirn, sondern das Verhalten des Menschen beobachtete." In gleicher Weise begann man die Pflanzen zu studieren; seither gibt es in der Botanik zwei Lager. Das eine findet, "es sei höchste Zeit, unsere Vorstellung von Bewusstsein und Intelligenz so zu erweitern, dass sie auch die Pflanzen umfasst, während ein anderes Lager diesen Weg für unsinnig hält. Weitaus mehr Botanikerinnen und Botaniker stehen hier in der Mitte, leisten still bemerkenswerte Arbeit und warten ab, was aus dieser Debatte wird. Ich teile ihre Einschätzung."

Zoë Schlanger vertieft sich in die Botanik und lässt uns an ihrer Faszination für das viele Neuentdeckte teilhaben. Ich lasse mich gerne von ihrem Enthusiasmus infizieren. "Die meiste Freude bereiten mir allerdings Bücher, die nicht als Auftragsarbeiten, sondern eindeutig aus einer Leidenschaft entstanden sind." Dabei stösst sie immer wieder auf Staunenswertes, etwa dass eine Wurzelhaube sowohl Feuchtigkeit und Nährstoffe wie auch Hindernisse und Gefahren erkennt. Wird diese Haube abgetrennt, wächst sie nach einiger Zeit nach.

 Die Lichtwandler ist jedoch nicht nur ein Buch davon Wie Pflanzen uns das Leben schenken, es ist so recht eigentlich ein sehr grundsätzliches Werk darüber, wie wir Menschen zu Erkenntnissen gelangen, die unser Dasein auf dem Planeten Erde prägen. "In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen". zitiert die Autorin Thomas Kuhn.

Diese Haltung des Bewahrens bzw. des Widerstandes gegen Veränderungen gehört zu den herausragendsten Charakteristika des Menschen, der sich nur ändert, wenn er muss. So erfährt etwa die Vorstellung, Pflanzen könnten ein Bewusstsein haben, zum Teil heftige Ablehnung, denn sie rüttelt an unserem Weltbild. "Ob Pflanzen intelligent sind oder nicht, ist letztlich keine wissenschaftliche, sondern eine soziale Frage." Und genau deswegen ist auch der Widerstand gegen intelligente Pflanzen so gross, denn wenn wir die Dinge so sehen würden wie sie sind, könnten wir nicht mehr so leben wie wir es tun.

Der Mensch sucht nach Halt und Orientierung, hat er diese einmal gefunden, so lässt er in der Regel nicht mehr davon. Es gibt Ausnahmen, es sind zumeist diejenigen, die etwas Neues dermassen fasziniert, dass sie vom Alten lassen. Es sind aber auch die, welche auf die eine oder andere Art gezwungen werden, eine destruktive Lebensweise aufzugeben. Nicht nur Menschen, sondern auch Pflanzen, wie der sowjetische Agrarwissenschaftler Nikolai Iwanowitsch Wawilow nachwies. So wehrte sich der durch Ausrottung gefährdete Roggen, indem er die Bauern zu täuschen begann – und so überlebte.

Unser angelerntes Denken führt in die Zerstörung. Diejenigen, die sich zu sehen und zu fühlen erlauben, wissen das. Es gilt, uns von der gängigen Weltsicht, die von Gewinnern und Verlieren schwafelt, zu verabschieden, und zu erkennen, was so recht eigentlich ganz leicht erkannt werden könnte. "Jede einzelne Pflanze ist das Produkt unvorstellbaren Glücks und unglaublichen Einfallsreichtums. Haben Sie das einmal verstanden, können Sie dieses Wissen nicht mehr rückgängig machen. In Ihrem Denken hat sich ein neues moralisches Feld eröffnet."

Fazit: Überaus hilfreiche Aufklärung! Erhellend und vielfältig inspirierend.

Zoë Schlanger
Die Lichtwandler
Wie Pflanzen uns das Leben schenken
S. Fischer, Frankfurt am Main 2024

Wednesday 30 October 2024

Niemandsland

Adwin de Kluyver, 1968 geboren, war von klein auf vom hohen Norden fasziniert, der sich grundlegend vom Süden unterscheidet. So wohnen im Norden rund um den 60. Breitengrad viele Menschen, im Süden jedoch liegen um den 60. Breitengrad nur unbewohnte Inseln. Er geht in den Süden, also dahin, wo er eigentlich gar nicht hinwollte. Doch wer weiss schon, was er wirklich will! Es zeigt sich in dem, was man tut. Bei seinen Recherchen, er ist Historiker, stösst er auch auf den weithin unbekannten japanischen Polarfahrer Nobu Shirase, auf dessen Spuren er sich macht.

Die Antarktis beginnt 500 Kilometer südlich von Neuseeland. Fin del Mundo nennt sich der Ausgangshafen Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, "die sich als ein ziemlich trauriger Sammelplatz für etwas zu reiche Senioren mit einem letzten Wunsch herausstellt." Wie wohltuend, dass da für einmal auf "Seniorinnen" verzichtet wird.

Dann folgt ein Kapitel, das mit "Monte Campana de Roldán, Chile" überschrieben ist, und von einem Kanonier aus Brügge sowie Magellans Tod handelt. Dann springt die Erzählung unvermittelt zurück in die Gegenwart. "Der Kontrast zur Expedition von Nobu Shirase könnte kaum grösser sein. Als die Japaner vor mehr als einem Jahrhundert auf dem eisbedeckten Kontinent einen nackten Granitfelsen sichteten, galt das als besondere Entdeckung. Sie liessen sich sogar mit dem Felsen fotografieren. Heute löst die kahle Felslandschaft der Südlichen Shetlands bei einer meiner Mitreisenden nur mässige Begeisterung aus. 'Ich werde hier keine Fotos machen', erklärt sie. 'Die kann ich denen zu Hause doch nicht zeigen. Die erwarten nur Schnee und Eis.'"

Dann erfolgt wiederum ein Abstecher in die Vergangenheit, zu den früheren Seefahrern Johann Reinhold Forster und James Cook. Frühere Entdeckungsreisen und die heutige von de Kluyver  abwechselnd zu präsentieren ist ein originelles und anregendes Konzept. Dazu kommt der sympathische Humor des Autors, der immer wieder durchscheint. 

Laufend offenbart Niemandsland Unerwartetes, auch natürlich, weil man über vieles noch gar nie nachgedacht hat. Zugegeben, ich rede von mir, halte mich jedoch nicht für eine Ausnahme. "Es gibt keine grösseren Leseratten als Polreisende." So hatte etwa Ernest Shackleton, der Kommandant der Endurance, die am 27. Oktober 1915 unterging, The Rime of the Ancient Mariner von Samuel Taylor Coleridge mit dabei; in Nobu Shirases Gepäck fanden sich die ins Japanisch übersetzten Reiseberichte von Ernest Shackleton.

Niemandsland ist eine Ansammlung von  Faszinierendem, Aufschlussreichem und allerlei Kuriosem. So erfährt man etwa, dass es auf Antarktika insgesamt siebenunddreissig Niederlassungen gibt, in denen sich das ganze Jahr über Wissenschaftler aufhalten. Auch die Faraday-Station gehört dazu, welche die Briten 1996 für einen symbolischen Betrag von einem Pfund an die Ukrainer verkauften. "Innerhalb der Station herrscht ein osteuropäisches Wohnzimmerklima. Trotz der milden Aussentemperatur von vier Grad im Sommer steht der Thermostat auf dreissig Grad."

Bei was auch immer der Mensch so treibt, gelten Gesetze, zumeist ungeschriebene. So erfährt man kaum jemals etwas über die Beziehungen innerhalb der Expeditionsgruppe. "Schon Roald Amundsen. Robert Falcon Scott und Ernest Shackleton wussten: Eine Expedition muss vor allem eine spannende Geschichte voller Entbehrungen und Erfolge liefern; damit konnte man Geld verdienen und neue Expeditionen finanzieren. Interne Streitigkeiten passen nicht in das Genre des abenteuerlichen Expeditionsberichts."

So recht eigentlich ist dies ein Buch der vielfältigsten Entdeckungen: Vom südlichsten Pub der Welt  zu Thaddeus Thaddewitsch Bellingshausens Forschungsfahrten im südlichen Eismeer 1819 - 1821, von Ursula K. Le Guins Sur (das Zitat aus diesem Buch lohnt allein die Lektüre von Niemandsland) zu Reflexionen über die Zeit und die Bedeutung des Menschen angesichts einer Landmasse, die seit Hunderten von Millionen Jahren existiert.

Barry Lopez hat einmal geschrieben, "Antarktika sei eigentlich eine Plattform, die im Weltraum über der Erde schwebe und den Planeten unter ihr im Auge behalte." Wie passend also, dass Niemandsland mit den Erfahrungen der Astronauten von Apollo 17 endet.

Niemandsland, ein sehr ansprechend gestalteter, hochformatiger Band, mit vielen überaus hilfreichen Karten und zahlreichen eindrucksvollen Schwarz/Weiss Fotografien, ist ein überaus inspirierendes Werk, das die eigene Entdeckerfreude anregt.

Adwin de Kluyver
Niemandsland
Eine antarktische Entdeckungsreise
mare, Hamburg 2024

Sunday 27 October 2024

Das vergessene Schtetl

Bereits bei den ersten Seiten muss ich dauernd loslachen, ob dem Witz, der Ironie und der Scharfsinnigkeit dieses Textes. Schon der erste Satz, "Auch in einer unbeschwerten, friedlichen Stadt wie der unseren ist es möglich, jemanden zu finden, dem man nie wieder begegnen will", tut, was erste Sätze, so sie denn gelungen sind, tun sollen: man will sofort wissen wie es weitergeht. Und natürlich lernt man dann sehr schnell, dass es mit der unbeschwerten friedlichen Stadt so weit her nun auch nicht ist, denn in Kreskol, im polnischen Urwald, sind die Sitten auch nicht anders als in anderen Städten, wo Neid und Geiz herrschen.

Pescha Rosenthal, Ismael Lindauer und Jankel Lewinkopf sind verschwunden. Als eines Tages ein eiserner Streitwagen am Himmel auftauchte, an Bord ein Goi und Jankel Lewinkopf, der heraussprang und dem Rabbi eröffnete. "Dieser Mann ist nicht der Messias. Das Ende der Tage ist bereits gekommen und wieder gegangen. Wir haben es verpasst.", weiss der Leser (ob Mann oder Frau), dass es sich bei Das vergessene Schtetl um einen aberwitzigen und an Überraschungen reichen Roman handelt, der, das gehört unverzüglich nachgeschoben, gleichzeitig höchst realistisch ist, denn nur in der grandiosesten Überzeichnung lässt sich das Gebaren der Menschen so in etwa fassen.

Doch von Anfang an:
Jankel Lewinkof, der Sohn von Deborah, "in einem Grab ausserhalb der Stadt beigesetzt, wo die Bastarde, Huren und Diebe von Kreskol begraben wurden", wächst bei Verwandten auf, wo er sich dauernd versucht, nützlich zu machen. "Dennoch war Jankel nicht gerade beliebt. Die Menschen in Kreskol waren nicht kultiviert genug, um ihr angeborenes Misstrauen gegenüber einem Mamser zu überwinden. Und doch hatte er sich einen Platz in unserer Stadt erarbeitet. Er wurde nicht völlig akzeptiert, aber er wurde auch nicht verachtet."

Eines Tages wird Jankel von Rabbi Katznelson aufgefordert, sich auf die Suche nach Pescha Rosenthal und Ismael Lindauer zu machen. Da Jankel noch nie aus dem vollkommen abgeschotteten Kreskol herausgekommen ist, führt dies zu seiner ersten Begegnung mit der Zivilisation, und zwar in Gestalt der Stadt Smolskie, über die er sich einerseits ohne Unterlass wundert, auf die er andererseits jedoch so gelassen reagiert, wie es seinem Temperament (er nahm einfach an, was ihm zustiess.) entspricht.

Er wird von einem Auto angefahren, landet im Spital, dann in der Psychiatrie. Die  Ärzte versuchen erfolglos aus ihm schlau zu werden, weisen ihn darauf hin, dass es einen Ort namens Kreskol nicht gebe, prüfen sein Wissen über die Zeitgeschichte. Der derzeitige republikanische Bewerber für die Präsidentschaft der USA würde sich wohl nicht schlecht wundern, dass Jankel noch nie von ihm gehört hatte!

Die Psychiater recherchieren über Kreskol im Internet, doch da sie auf Google nicht fündig werden, sind sie sich gewiss, dass der Mann ein Psychotiker sein bzw. unter Wahnvorstellungen leiden muss. Nein, nein, erläutert ihnen der beigezogene Hypnotiseur. Das sind keine Wahnvorstellungen, er erzählt die Wahrheit, denn natürlich sei es möglich, dass Kreskol von den Nazis übersehen worden sei. Einige Ärzte wähnen sich dem Wahnsinn nahe.

Vom Telefon und noch vielem anderen, erfährt Jankel. Er ist begeistert. Doch sollte man ihn nicht auch über den Holocaust aufklären? Dr. Fischbein wird damit beauftragt. Als er geendet hat, sagt Jankel: "Ich will nicht respektlos sein, Dr. Fischbein, aber für wie dumm haltet ihr mich eigentlich?" Nein, das ist nicht das Ende der Geschichte, nur das Ende von Jankels Aufenthalt in der Psychiatrie, der aus Kostengründen (was wäre für unsere Zeit charakteristischer als die Diktatur der Kosten?) entlassen werden soll. Dann nimmt die Geschichte eine unverhoffte Wende ... .

  So recht eigentlich unternimmt Das vergessene Schtetl den Versuch, Juden, die nichts vom Zwanzigsten Jahrhundert mitgekriegt haben, zu erklären, was da alles vorgefallen ist. "Der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, die Gründung des Staates Israel, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums; ein Mann auf dem Mond, die Ausrottung der Kinderlähmung, die Erfindung des Instant-Kaffeepulvers (auch wenn normaler Kaffee hierzulande sowieso ein unbekanntes Gut war.)." Was ist ihnen zumutbar, was nicht? Wie im richtigen Leben gehen die Meinungen weit auseinander. Das ist unterhaltsamste Aufklärung vom Feinsten, die auch überzeugend vermittelt, dass wir vom emotionalen Begreifen von so ziemlich allem weit entfernt sind.

Als die Politik in Warschau erfährt, dass es Kreskol wirklich gibt, wird die Stadt eingenommen. "... eine ganze Reihe Reporter, Fotografen und Kameraleute, die .(..) auf uns zustürmten, als wären sie Stiere, die einen Matador angreifen." Kein Wunder, sehen die Einheimischen dieser fremden Übernahme mit gemischten Gefühlen gegenüber. 

Kann es wirklich sein, dass die Nazis Kreskol übersehen haben (der renommierte Historiker Berlinsky hält dies für unmöglich), dass niemand in Kreskol von den Gräueltaten der Nazis gewusst hat (zumindest Leonid Spektor ist über Kreskol hinausgekommen und auch die Roma wissen einiges). Doch die Bewohner von Kreskol können und wollen diese Realität, die sie sich nicht vorstellen mögen, nicht wahrhaben.

Es ist eine überaus vielschichtige Geschichte, die dieser Roman erzählt. So landet Jankel in Warschau, wo er auf Pescha trifft und die beiden sich ineinander verlieben, fällt Kreskol in die Hände der Bürokraten, ruiniert die Ökonomie wieder einmal alles. Über allem hängt jedoch die Frage, ob dem Menschen die Wahrheit zumutbar ist. Eher nicht ...

Verfasst wurde dieses ungewöhnliche Lesevergnügen von Max Gross, Chefredakteur des Commercial Observer; die überaus gelungene Übersetzung stammt von Daniel Beskos, unter anderem Mitbegründer des Hamburger mairisch Verlags.

Fazit: Grossartig! Packend, reich an überraschenden Wendungen und sehr lustig.

Max Gross
Das vergessenen Schtetl
Roman
Katapult Verlag, Greifswald 2024

Wednesday 23 October 2024

Tom Krebs: Fehldiagnose

Bereits auf den ersten Seiten von Fehldiagnose. Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten wird mir klar, dass ich mir unter diesem Titel etwas gänzlich anderes vorgestellt habe als eine "Fundamentalkritik an der Ampelregierung". Vorgestellt habe ich mir etwas Fundamentaleres: Eine Kritik an der Idee des Wirtschaftswachstums sowie an dem Wahnsinn, dass wir sämtliche Gesellschaftsbereiche von Ökonomen dominieren lassen. Stattdessen plädiert Tom Krebs dafür, sich von der Märchenwelt der sich selbstregulierenden Märkte zu verabschieden "und das alte Marktdogma durch eine realistische Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft zu ersetzen."

Es gelte, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und gleichzeitig eine positive Vision der Zukunft zu bieten, so Professor Krebs, der sich genau darum bemüht. Eines der Probleme besteht allerdings darin, dass der Mensch und seine Sorgen von der Politik noch nie ernst genommen worden sind. Auch ist alles andere als wahrscheinlich, dass sich das je ändern und es wohl bei Lippenbekenntnissen bleiben wird. Weil es weniger um die Ökonomie als um die menschliche Natur geht  und dieser ist Veränderung, auch die zum Guten, nicht wirklich geheuer. Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn ich mich täuschen würde.

Einleuchtend zeigt der Autor auf wie der Ukrainekrieg zu einer Energiekrise beispiellosen Ausmasses geführt hat. Erstaunlicherweise wurde diese jedoch von führenden Ökonomen nicht als solche wahrgenommen. Eine Fehldiagnose, meint Tom Krebs, dessen Argumente bestens nachvollziehbar sind.

Dass man dieselben Fakten sehr unterschiedlich interpretieren kann, ist nichts Neues. Dass die Interpretation immer auf einer Grundhaltung basiert, wird jedoch eher selten klar benannt. Professor Krebs gehört zu den Ausnahmen – er macht kein Geheimnis daraus, wo seine Präferenzen liegen: Nicht bei denen, die sich dem Wirtschaftsliberalismus verschrieben haben und sich stets gegen die Arbeitnehmerinteressen sowie die Besteuerung von Vermögen positionieren.

Wie so oft stehen sich auch in der Ökonomie zumeist unversöhnliche Grundhaltungen gegenüber, die dann nichtsdestotrotz recht erbittert diskutiert werden, doch, jedenfalls gemäss meiner Einschätzung, selten jemand umstimmen können. Das eindrücklichste Beispiel aus der jüngeren Zeit sind die Anhänger des gegenwärtigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA, der eindeutig nicht alle Taschen im Schrank hat, was jedoch seine Anhänger nicht im mindesten zu beeinflussen scheint. Mit anderen Worten: Dieses Buch richtet sich an alle, die ernsthaft guten Willens sind, um sich sachlich auseinanderzusetzen.

Unter dem Titel "Neoliberale Nebelkerzen" kommt auch der gesetzliche Mindestlohn zur Sprache. Die Argumente dagegen sind nicht wirklich ernst zunehmen, so der Autor, denn nur die Arbeitgeberseite und die obere Mittelschicht profitieren von einer Ablehnung. Mir persönlich scheinen 15 Euro vollkommen lächerlich; dass jemand, der dagegen votiert, sich selber mit 15 Euro zufriedengeben würde, kann ich mir nicht vorstellen.

Am Rande: Studierte allgemein und Hochschulprofessoren im Besonderen (Tom Krebs unterrichtet an der Uni Mannheim) bedienen sich in der Regel einer Sprache, bei der man sich unweigerlich fragt: Wo leben die eigentlich? In Sachen 15 Euro gesetzlicher Mindestlohn liest sich das dann so: "Es passiert also sehr wenig, obgleich der aktuelle Zustand mehrheitlich als nicht gerecht empfunden wird. Dies deutet darauf hin, dass der demokratische Prozess in diesem Fall versagt." Auf Deutsch: Der aktuelle Zustand ist menschenverachtend; der demokratische Prozess ist ein Euphemismus für profitgetriebene Interessensdurchsetzung.

Wie eingangs angedeutet, mein Interesse an der Ampelregierung ist gering (auch natürlich, weil ich davon als Schweizer nicht direkt betroffen bin), was man jedoch gegen eine Kindergrundsicherung, mit der die Kinderarmut bekämpft werden soll, haben kann, entzieht sich mir. Die grundsätzliche FDP-Kritik stehe stellvertretend für die regelmässigen Angriffe auf den Sozialstaat aus dem liberal-konservativen Lager, erfahre ich. So weit, so klar, doch Autor Tom Krebs schreibt: "Es ist daher lohnenswert, einen genaueren Blick auf die Kritik von Christian Lindner an der Kindergrundsicherung zu werfen."

Warum das lohnenswert sein soll (ausser für Professoren, die damit ihr Brot verdienen) entzieht sich mir. Ich brauche nicht zu wissen, warum jemand gegen etwas ist, denn dass er dagegen ist, zeigt mir, wie er denkt. Mit anderen Worten: Das Denken zeigt sich im Handeln. Lindners Denken gehört nicht analysiert, sondern bekämpft ... doch das wäre dann vermutlich kein Buch.

Dass Fehldiagnose nichtsdestotrotz lohnt, ersieht man aus den Kapitelüberschriften, die auf den Punkt bringen, worum es dem Autor geht. Hier drei Beispiele: "Eine Märchenwelt uneingeschränkter Freiheit und effizienter Märkte"; "Klimafreundliches Verhalten fördern, nicht die vermeintlichen Klimasünder bestrafen"; "Abwarten ist keine Option". Tom Krebs plädiert für ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit. Was genau er darunter versteht, legt er in diesem Werk dar. Jetzt muss er nur noch gehört werden!

Tom Krebs
Fehldiagnose
Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten
Westend, Neu-Isenburg 2024

Sunday 20 October 2024

Nur die richtige Meinung ist frei

Gleich zu Beginn dieses Buchs zitiert die Autorin Niklas Luhmann. "Was wir über unserer Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien", und fragt sich dann, ob wir uns wirklich auf diese Medien verlassen können. "Ist das, was wir durch die Medien erfahren, tatsächlich die Wirklichkeit? Oder ist sie verzerrt, verformt oder gar verfälscht?" Nun ja, Luhmann hat die Frage zumindest teilweise beantwortet, als er meinte, dass wir zwar den Medien misstrauten, aber trotzdem unser Weltbild aus ihnen beziehen. Verzerrt, verformt und auch verfälscht natürlich, das wiederum sagt nicht Luhmann, das sage ich, denn die Medienleute sind genauso überfordert wie wir alle, wenn es darum geht, uns ein halbwegs akkurates Bild der Welt zu vermitteln, schliesslich wissen Journalisten, wie wir alle, nur selten Bescheid über ihre eigenen Voreingenommenheiten. Doch das wäre ein anderes Buch ...

 Deutsch gelernt hat Danhong Zhang in Peking, wo sie im Alter von zwölf verschiedene fremdartige Sprachen nachplappern musste und dabei besonderen Gefallen fand "an einer etwas metallischen und sehr rhythmischen Sprache", die sich als Deutsch herausstellte. Schon interessant, wie Deutsch in chinesischen Ohren klingt!

Sie landet bei der Deutschen Welle in Köln, erlebt zuerst alles ganz positiv, wundert sich aber, wie  grosszügig man da mit Steuergeldern umgeht. Darüber wundern sich auch viele Deutsche. Auch trifft sie als Chinesin in Deutschland auf Vorurteile, was allerdings wenig bemerkenswert ist, denn die Menschen sind nun einmal von Vorstellungen, ungeprüften Meinungen und Bildern im Kopf geleitet, auf der ganzen Welt.

Mit der Zeit stört sie sich über das Bild, das die deutschen Medien von China zeichnen. Als sie 2006 selber in Peking ist, "fand ich ein völlig anderes Land vor als das in dem Bild, das die deutschen Medien gezeichnet hatten." Das ist wenig verwunderlich, denn die Vorstellung, dass die Medien imstande sein könnten, die Realität abzubilden, ist schlicht absurd. Wer mit einer solchen Erwartungshaltung durch die Welt geht, versteht nicht, wie die Medien funktionieren.

Die Medien haben ganz unterschiedliche Aufgaben. Die meisten von ihnen kommen in der Journalistenausbildung bestenfalls am Rande vor. Unterhaltung, Ablenkung, die Herstellung von gesellschaftlicher Stabilität. Vor allem aber müssen sie profitabel sein. 

In sogenannten Demokratien herrscht das Geld und nicht das Volk. Doch die Meinungsäusserungsfreiheit ist gewährleistet. In der Praxis heisst das: Man darf zwar sagen, was man denkt, wenn man aber von der Mehrheitsmeinung abweicht, hat das selbstverständlich Konsequenzen. Wer das anders sieht, hat nicht begriffen, wie der Mensch tickt. Dieser sucht nämlich nicht die Wahrheit, sondern Sicherheit. Überall auf der Welt.

"Für alle negativen Entwicklungen konnte ein Zusammenhang zum fernen China hergestellt werden, das war zumindest mein Eindruck." Das ist zweifellos so, allerdings liesse sich das genauso gut über die USA, Russland oder Israel sagen. Den deutschen Medien vorzuwerfen, dass sie im richtigen Leben weit hinter ihren Idealen zurückbleiben. ist hingegen wohlfeil, denn diese Diskrepanz ist normal. Ist sie auch gut? Natürlich nicht. Und genau deswegen lohnt sich auch dieses Buch, das, wie der Untertitel sagt, Erfahrungen einer Journalistin beschreibt.

Danhong Zhang macht in Deutschland die Erfahrung, die Menschen in fremden Ländern oft machen. Für alles, was in China geschieht, wird sie persönlich verantwortlich gemacht. Schlimm ist das besonders für ihre Tochter. Da ich selber viele Jahre in mir fremden Ländern zugebracht habe, kann ich das bestens nachvollziehen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals auf jemanden getroffen zu sein, dessen Bild der Schweiz mit meinem auch nur in etwa vergleichbar gewesen wäre.

Der Hauptteil von Nur die richtige Meinung ist frei handelt jedoch von der Causa Zhang, die ein Lehrstück über die Durchsetzung von Machtinteressen ist. Falun Gong, eine Bewegung, die von der chinesischen Regierung bekämpft wird, bemüht sich um die Berichterstattung über eine Falun Gong-Veranstaltung, wird aber von Frau Zhang bei der Deutschen Welle abgewiesen. Was dann geschieht, ist ein detaillierter und höchst aufschlussreicher Bericht über den Kampf der Interessen, hat allerdings wenig mit Meinungsfreiheit und viel mit unserer Wettbewerbswelt zu tun, in der Rückgrat zu zeigen ausgesprochen selten ist.     

"Denn den gängigen Stereotypen hatte ich den Kampf angesagt", schreibt sie einmal. Damit nimmt sie für sich in Anspruch, die Dinge vorurteilsfreier zu beurteilen als die Mainstream Medien. Als sie dann aber fragt: "Und ist da überhaupt noch ein Moderator, den man nicht links einordnen würde?", denkt es so in mir: Wenn das nicht ein gängiges Stereotyp ist, was dann? Und: Wie rechts muss man eigentlich sein, um deutsche Fernsehmoderatoren als links zu begreifen?

PS: "Nichts darf ansatzweise so gedeutet werden, dass Putin rationale Gründe haben könnte, einen Krieg (mit der Ukraine) vom Zaum zu brechen", macht klar, dass es in diesem Buch nur vordergründig um Meinungsfreiheit geht. Wer mehr als zwei Jahre nach dem russischen Angriff, dessen Brutalität für alle, die wollen, zu sehen ist, solches zu Papier bringt, betreibt nichts anderes als Propaganda. Das wird den chinesischen Machthabern, die an Russlands Seite stehen, bestimmt gefallen. Und nicht zuletzt: Was Menschen denken, zeigt sich nicht in dem, was sie sagen, sondern in dem, was sie tun. Danhong Zhang lebt seit 2019 wieder in China.
                  
Danhong Zhang
Nur die richtige Meinung ist frei
Erfahrungsbericht einer Journalistin
Fiftyfifty Verlag, Köln 2024

Wednesday 16 October 2024

Born to Sing

Das erste Gespräch in diesem Band stammt aus dem Jahr 1975, das letzte aus dem Jahr 2016. "Ich bin, glaube ich, ein Typ, der alles, was er hört, irgendwie in sich aufnimmt. Ich suche nicht gross rum, ich suche nicht nach bestimmten Sachen", so Springsteen 1975. Und: Er sei ein Songwriter, kein Dichter, er schreibe Song-Texte. Das Komponieren habe er nicht gelernt. "So was lernt man nicht. Ich weiss nicht – lernen ... Ich glaube nicht ans Lernen. (Lacht.)." Unprätentiös, direkt, klar. Keine Bedeutungshuberei mittels Worten.

Ein unglaublicher Drive, eine intensive Präsenz, ein elektrisierender Beat – so habe ich seine Musik immer erfahren. Von Rosalita und Born to Run konnte ich einst nicht genug kriegen. Das war das Leben, das vibrierte und mich packte, ganz im Gegensatz zu meinem damaligen Jurastudium. Dieser Sound stand für eine andere, aufregende Realität; er repräsentierte ein einzigartiges Aufbruchsgefühl, das dann leider vom Kapitalismus aufgesaugt und vermarktet wurde.

Insgesamt sieben Gespräche umfasst dieser Band. Das für mich eindrücklichste fand 1975 statt, "mit einem schwedischen Interviewer", wie es heisst. Springsteen ist zu der Zeit gerade mal 26 Jahre alt, weiss genau, wer er ist, was ihn ausmacht und was er will. Das ist selten in diesem Alter (jedenfalls meiner Erfahrung nach). Ob er Pessimist sei? "Finde ich eigentlich nicht, ich halte mich für ziemlich optimistisch. Es gibt nur einfach keine richtigen Lösungen. Es gibt jede Menge falscher Antworten und falscher Lösungen, aber richtige gibt es nicht. Deshalb sind die Songs auch so lang. Sie haben keinen Anfang und kein Ende, denn so ist das Leben. Es gibt nur den Alltag, Momente. Ereignisse. Eben nicht: Und dann ist er gestorben. So was gibt es bei mir nicht. Es geht immer weiter. Es geht weiter und weiter und weiter. Die Songs sollen alle einfach ausklingen – im Grunde sollten sie gar nicht aufhören."

Besonders spannend an diesem Gespräch ist, dass es wirklich ein Gespräch ist und nicht die zumeist uninspirierte Abfragerei, die Interviews häufig kennzeichnet (Wie haben sie sich damals gefühlt?). So schildert der Fragesteller ausführlich, was ein Konzert in einem Club, bei ihm auslöste und was er im Publikum beobachtete. "Im Troubadour wirkte es, als kämpfte der Künstler mit seiner Kunst; bei anderen Konzerten scheint der Künstler seine Kunst zu performen." Worauf Springsteen erwidert: "Ja, das trifft es. Das ist der Unterschied. Im Troubadour war es wirklich ein Kampf, durch den Set zu kommen."

Dieses erste Gespräch ist für mich das ergiebigste dieser aufschlussreichen Gespräche, da es von der Art von Intensität geprägt ist, die Springsteen als Person ausmacht. Von seinem katholischen Aufwachsen ist da die Rede, von dem Sich-Beweisen-Müssen. Bei dieser Auseinandersetzung mit existenziellen Lebensfragen findet ein wirklicher Austausch statt. Beeindruckend und hilfreich.

Springsteen verfügt über Überzeugungen, die man heutzutage selten antrifft. Doch auch damals, als es mit seiner Band anfing, war das selten, dass jemand nicht tat, was von ihm erwartet wurde, sondern ganz einfach sein Ding machen wollte, gut machen wollte. So eigensinnig er auch war, nur bei dem, was ihm wichtig war, ging er keine Kompromisse ein. "Als ich noch jobbte, habe ich das Haus grün gestrichen, wenn jemand es grün haben wollte. Aber wenn ich Musik mache, will ich es auf meine Art machen, und zwar voll und ganz. Oder ich lasse es bleiben."

In einem Gespräch aus dem Jahre 1992, gesteht er, dass wenn er auf der Bühne stand, es ihm schwer fiel aufzuhören, weshalb auch die Konzerte so lange dauerten. "Ich konnte schlicht nicht aufhören, bis ich erschöpft war, und zwar völlig." So geht Sucht. Er macht eine Therapie und erkennt: "Man muss sich dem öffnen, wer man eigentlich ist, und ich war ganz sicher nicht der Mensch, für den ich mich gehalten hatte."

Springsteen, so lerne ich unter anderem, erkennt sich auch in Ralph Ellisons Roman Der unsichtbare Mann, der bei mir schon lange ungelesen im Regal steht und ich jetzt unverzüglich zur Hand nehme, denn "Ellisons Held greift nicht aktiv in die Welt ein. Er möchte, dass sich die Dinge ändern, aber er ist in erster Linie Zeuge, Zeuge von sehr viel Blindheit." Diese Gespräche geben Gegensteuer und werfen Licht auf unsere Art und Weise zu leben.

Bruce Springsteen
Born to Sing
Ein Leben in Gesprächen
Kampa, Zürich 2024