Wednesday, 8 January 2025
Sanug Sabai
Wednesday, 1 January 2025
Das Jetzt ist nicht zu fassen
Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.
Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.
Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.
*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.
Wednesday, 25 December 2024
Das Reich Gottes
Was mir Emmanuel Carrères Schreiben so sympathisch und wichtig macht, ist seine ernsthafte und aufrichtige Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Nicht nur, dass er sich Fragen stellt, die sich die meisten gar nie stellen ((etwa: Woran glauben Christen heutzutage wirklich?), sondern sie auch zu beantworten sucht. Und dann den Leser daran teilhaben lässt, wie er vorgegangen ist, was für Zweifel und Schwierigkeiten ihn dabei begleitet haben, wie er um Erkenntnis, ja, um Wahrheit ringt.
„Von welchem Standpunkt aus sprichst du?“, wurde man in den politischen Diskussionen der 68er gefragt, eine Frage, die Carrère nach wie vor relevant findet. „Ein Gedanke berührt mich eher, wenn er von einer konkreten Stimme getragen wird, wenn er von einem bestimmten Menschen ausgeht und ich weiss, welchen Weg er sich in diesem Menschen gebahnt hat.“ Das charakterisiert auch sein eigenes, sehr persönliches Schreiben.
Carrère schreibt spannend, scharfsinnig, selbst-analytisch und ehrlich, ja man glaubt zu spüren, dass er in seinem tiefsten Inneren glaubt, dass die Wahrheit uns frei machen werde. Mühe hat er mit denen, die sich weniger ernsthaft bemühen als er selber: „... dieses bürgerliche, provinzielle, unhinterfragte Christentum der Apotheker und Notare, das ich gelernt habe, mit nachsichtiger Ironie zu betrachten, stösst mich plötzlich ab.“
Sehr streng geht er vor allem mit sich selber um und ohne Selbst-Ironie würde er wohl auf der Stelle dem Wahnsinn anheimfallen. „Ich gehe für eine Woche im burgundischen Benediktinerkloster Pierre-Qui-Vire in Klausur. Vigil um 2 Uhr morgens, Laudes um 6, Frühstück um 7, Messe um 9, Yoga in meiner Zelle um 10, Johannes lesen und kommentieren um 11, Mittagessen um 13 Uhr, Waldspaziergang um 14 Uhr, Vesper um 18, Abendessen um 19, Komplet um 20, Schlafengehen um 21 Uhr. Als guter Zwangsneurotiker bin ich ich begeistert. Ich lasse nichts davon aus.“
Sein Vorgehen (und sein Umgang mit sich selber) hat obsessive, ja manische Züge; von einem Extrem springt er ins nächste. Wenn das Desinteresse am Gebet sich breit macht, muss man nicht gerade dann beten, wie die Mystiker meinen?, fragt er sich. „Aber genau jetzt kommen mir selbst die Ratschläge der Mystiker wie Gehirnwäsche vor, und der Mut scheint mir genau darin zu bestehen, ihnen nicht mehr zu folgen, sondern mich stattdessen der Wirklichkeit zu stellen.“ Nein, das ist nicht Carrères Schussfolgerung, so fängt seine Beschäftigung mit Paulus an.
„Ich bin zu dem geworden, der zu werden ich so sehr befürchtet hatte. Ein Ungläubiger, ein Agnostiker ...“, notiert er. Doch jetzt, „fünfzehn Jahre nachdem ich meine Hefte mit den Evangelien-Kommentaren in einen Karton gepackt hatte“, macht er sich auf, sich „diese Texte, das heisst das Neue Testament, ein weiteres Mal anzusehen.“
Die Geschichte von Paulus und Lukas, die er nachzeichnet, bringt er auch in Zusammenhang mit der heutigen Zeit und macht damit klar, dass das Geschilderte nicht einfach nur historisch, sondern ganz grundsätzlich von Bedeutung ist. „Er war nicht mehr derselbe, denn er war endlich sich selbst“, ein Satz, der Carrère Paulus zuschreibt, ist die Art von Erlösung nach der wir uns zwar sehen, doch gegen die wir uns aus Angst sträuben und die wir erst begreifen, wenn wir sie erfahren haben.
Die „kleine jüdische Sekte, die einmal das Christentum werden sollte“, war imstande zu Handlungen anzustiften, „Handlungen – und nicht nur Worten – , die dem normalen menschlichen Verhalten zuwiderlaufen. Menschen sind nun mal so gestrickt, dass sie ihren Freunden Gutes wollen – und selbst für die Edelsten unter ihnen ist schon das keine Kleinigkeit – und ihren Feinden Böses. Sie sind lieber stark als schwach, lieber reich als arm, lieber gross als klein, lieber Herrscher als Beherrschte. So ist es eben, das ist normal, und niemand hat je behauptet, das sei schlecht. Weder die griechische Weisheitslehre noch die jüdische Frömmigkeit. Doch nun sind da Menschen, die nicht nur das Gegenteil davon behaupten, sondern es auch tun ...“. Das ist revolutionär, ja, revolutionärer geht es kaum. Kein Wunder, wird es so selten praktiziert. Und natürlich wurde Paulus sowohl angefeindet als auch nicht ernst genommen.
„Das Reich Gottes“ ist ein eindringliches, witziges und höchst lehrreiches Dokument der Selbsterkundung, das nicht zuletzt durch die breite Neugier des Autors beeindruckt und anregt, die von Philip K. Dick, Hare Krishna und Lucky Luke zum auch heute noch aktuellen Coaching des Seneca (der, wie viele Lehrer, offenbar nicht wirklich lebte, was er predigte) reicht.
Ein grossartiges Buch!
Wednesday, 18 December 2024
In Annemasse und Genf
Das Einkaufszentrum, wo ich ein Verbindungskabel fürs Handy kriegen könne, sei für einen Spaziergang recht weit, sagt man mir. Ich mache mich trotzdem auf den Weg, doch die Strassen, durch die ich gehe, sind wenig attraktiv und so schwenke ich, wie ich mir vorstelle, wieder Richtung Zentrum und lande in einer modernen Fussgängerzone mit kleinen Geschäften und Cafés. Ein paar Strassen weiter wird die Strasse aufgerissen, in den engen Gassen sehe ich einen Handyladen und kaufe mein Kabel, ein Drittel günstiger als in der Schweiz.
Jetzt, sagte mir letzthin eine Freundin, das Jetzt werde ihr immer wichtiger. Seither geht mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Nichts schwieriger als in diesem Jetzt zu sein. Was mich auch seit Tagen begleitet: Das Leben sei vor allem traurig, von einigen wenigen Glücksmomenten durchbrochen. So oder ähnlich habe ich das von Françoise Hardy gehört.
Beim Betrachten meiner Fotos könne man sogar eine Stadt wie Annemasse schön finden, meinte die junge Rezeptionistin "meines" Hotels.
Auf der Rückfahrt nach Sargans bin ich am Genfer Bahnhof ausgestiegen, zum See spaziert, habe den Jet d'Eau und anderes fotografiert. Dann ging ich durchs Paquis Quartier, das mir nicht unvertraut ist, doch kam ich an Orten vorbei, die neu für mich waren, bis ich, mir schien ein Instinkt am Werk, plötzlich die Strasse überquerte und in eine Seitenstrasse einbog. Die kannte ich doch! Hatte da nicht einst Laurence vorübergehend gewohnt? Rue Sismondi, sagt das Strassenschild. Ich hatte mich nicht getäuscht.
Kurze Zeit später: Der Gedanke war mir nicht neu, doch selten erschien er mir so klar wie auf einer Parkbank vor der Kirche beim Bahnhof in diesem Sommer 2024: Wie kann man bloss ein Leben lang dem Geld hinterher rennen, es zum Gott machen? Fantasieloser und hohler geht kaum.
Wie beschränkt muss eigentlich jemand sein, der sein Leben am Haben orientiert? Das er (oder sie) einmal eh nicht mitnehmen kann. Doch tun wir das nicht alle? Und bewundern und beneiden die sogenannten Erfolgreichen? Ja, wir alle sind einer Massenpsychose aufgesessen. Und sehen das natürlich überhaupt nicht so, ganz im Gegenteil, wir halten das für typisch menschlich. Kein Grund also, sich davon zu befreien.
Und so schwafeln wir von Identität, davon, dass es wichtig sei, jemand zu sein. Obwohl: Gelegentlich wissen wir schon, dass wir uns was vormachen. Und dass das Einzige, was uns fehlt, das Gefühl ist, am Leben zu sein.