Ich erwarte mir viel von diesem Buch, bin dann aber ziemlich ernüchtert, als ich lese, bei den Wahrheitsquellen, die seit Beginn der Neuzeit zu den Fundamenten unserer Demokratie geworden seien, handle es sich um die objektive Wissenschaft, die unabhängige Justiz und die freie Presse. Mit Verlaub, doch das ist schlicht Blödsinn. Die unabhängige Justiz (Richter werden von politischen Parteien gewählt) und die freie Presse (die Presse berichtet im Interesse ihrer Eigentümer) hat es noch nie gegeben, und um die objektive Wissenschaft wird unablässig gerungen.
Aufschlussreich ist hingegen, was der Autor über die von Platon begründete Wahrheitsvorstellung ausführt: Die Wahrheit ist nicht im Hier und Jetzt zu finden, sie wird dem Menschen ausserhalb des Hier und Jetzt gegeben. Gemäss Richard Rorty hatte dies auch mit dem harten Leben von damals zu tun (eine Verbesserung dieses Lebens lag jenseits aller Vorstellung). "Die Vorstellung, dass die irdische Wirklichkeit nur 'Schein' ist, enthielt Hoffnung und Trost (...) Die Funktion der Wahrheit bestand entsprechend darin, so Rorty, 'sie aus dem Elend zu erheben und in eine bessere Welt zu befördern.'"
Rob Wijnberg erzählt seine kurze Geschichte der Zeit als Geschichte der Emanzipation des Menschen. War dieser von 400 v.Chr. bis 1600 n.Chr. passiv und untertänig, so wurde aus ihm von 1600 bis 1950 ein Träger von Rechten, der sich als Beherrscher der natürlichen Ordnung wähnte. Möglich wurde das nicht im luftleeren Raum, sondern es ging einher mit der Verbrennungsökonomie (Öl und Gas), die sowohl Fortschritt als auch Zerstörung (Konzentrationslager) möglich machten.
Der nächste Schritt wurde dann wesentlich von Nietzsche ("Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.") eingeleitet. Mit anderen Worten: Die Wahrheit wird weder gegeben, noch gefunden, sondern gemacht. "Die Wahrheit ist kein Spiegelbild, sondern eine Projektion des Menschen."
1947, zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde auf dem Mont Pèlerin die Ideologie des freien Marktes eingeläutet, deren Folge die Ökonomisierung der Gesellschaft war. Die Wahrheit wurde zu einem Produkt. "Die Welt ein Laden, der Mensch ein Kunde", so Rob Wijnberg. "In der heutigen postmodernen Konsumgesellschaft ist Wahrheit nicht gegeben, sie wird nicht gefunden oder gemacht, sie wird konsumiert."
Unsere Sicht der Welt (und damit auch unsere Sicht der Wahrheit) ist wesentlich ökonomisch geprägt. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen (unsere Lebensbedingungen), die unserer Wahrnehmung prägen. So regieren die Gesetze des Marktes nicht nur die Welt der Waren, sondern auch die Politik. Anders gesagt: Was obenaus schwingt, ist das, was sich am besten verkauft. Ob im Supermarkt oder im Parlament.
Bedürfnisbefriedigung, weist Rob Wijnberg nach, rangiert zuoberst auf der Wertskala, die uns leitet. Es erstaunt daher nicht, dass in einer Warenwelt auch die Wahrheit zur Ware wird, die genauso konsumiert wird wie andere Waren auch.
Zu den eindrücklichsten Kapiteln gehört Die Mediatisierung der Wahrheit, worin der Autor auch aufzeigt, dass die Nachrichten so recht eigentlich ständig unsere Fiktionen (Wirtschaft, Landesgrenzen, digitale Währungen, Innovation etc. sind alles Fiktionen) bekräftigen, damit wir sie auch ja für real halten. Auch dass wir einem steten Strom von Informationen aus Weltgegenden, die fernab liegen, ausgesetzt sind, trägt nicht unbedingt zu unserem Wohlbefinden bei. Im Gegenteil, wir werden misstrauisch. "Versuchen Sie nur einmal, die Nachrichten zu verfolgen, ohne zu dem Schluss zu gelangen, dass wir von Schurken oder Dummköpfen regiert werden."
Wir sollten uns lösen von den uns aufgedrückten Vorstellungen, die wir von uns und der Welt haben, und stattdessen genau hinsehen. Alsdann werden wir erkennen, dass der Erfolg der Spezies Mensch in der Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Fürsorge gründet. Rob Wijnberg bezeichnet "Wahrheit als Gewebe" und weist an vielen Beispielen nach, dass und wie wir aufeinander angewiesen sind. "Wahrheit ist das, was wir teilen."
Fazit: Ein origineller und hilfreicher Blick auf die Wahrheit: Wie sie sich nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Bedingungen gewandelt hat und wie wir sie heute definieren müssen.
Rob Wijnberg
Ruinen der Wahrheit
Eine kurze Geschichte unserer Zeit
C.H. Beck, München 2025
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