Wednesday, 1 August 2018

Leonard von Matt: Frühe Fotografien

Wie bei vielen Fotobüchern – aus mich nicht überzeugenden Gründen – üblich, figurieren die Bildlegenden am Ende des Buches und sind dann meist auch noch derart wenig aussagekräftig, dass man sie auch hätte wegassen können. Wunderbar ausführliche Angaben (unverständlicherweise in einer Kleinstschrift) finden sich hingegen zum Titelbild, weshalb sie denn hier auch in voller Länge zitiert werden sollen.

"Katharina Josepha Angelika Lussi (1878-1952) war Wäscherin und arbeitete in grossen Hotels u.a. in Wengen im Berner Oberland. In der Zwischensaison kehrte sie jeweils nach Hause zurück, ins "Gigi" in Oberdorf oder später in den Spittel, das Alte Spital, in Stans. Solange die Kräfte es zuliessen, wusch sie dort unter freiem Himmel Wäsche und warf sie mit Schwung zum Trocknen übers Seil, das im Garten gespannt war.
"S'Ängelini", der Name wurde auf dem ersten i betont, liebte den Tabak. Sie rauchte Brissago und Zigarren und auf dem Tisch in ihrer Stube stand eine Schale mit Pfeifen. Eine Frau die rauchte, war in Nidwalden nichts Ungehöriges und jede pfeifenrauchende Frau hatte Tabakbeutel, Pfeifenstopfer und Pfeifenputzer stets griffbereit.
Angelika Lussi trägt zwei Schmuckstücke, die Teil der Nidwaldner Tracht sind. Das "Halsbätti" ist der Halsschmuck. Vergoldete Filigran-Teile sind mit mehreren Reihen von Granatperlen verbunden. Den "Pfiil", den silbernen, auf der Vorderseite reichverzerten Pfeil, hat das "Ängelini" durch die aufgesteckten Haare und die darüberliegenden "wiise Zipfebändi" gesteckt. "D'Zipfe" besteht aus zusammengenähten Kordeln, die bei der unverheirateten Frau mit weissem Baumwollband umwickelt sind."

Sicher, im Nachhinein ist es oft nicht einfach, Fotos zuzuordnen geschweige denn Bildlegenden zu finden. Sieht man sich die Liste der Legenden am Ende dieses Bandes an, so kann man unschwer erkennen, dass die Herausgeber sich viel Mühe gegeben haben. Schade, hat der Fotograf nicht mehr Infos zu den Aufnahmen, die aus den Jahren 1936 bis 1946 stammen und hauptsächlich Porträts von Menschen und Landschaften zeigen, zurückgelassen.

Als ich diesen Band das erste Mal in Händen hielt, beschloss ich nach Stans zu fahren. Von diesem Besuch ist mir vor allem der Hauptplatz in Erinnerung geblieben sowie der Friedhof, wo zu meiner Verblüffung Grabsteine mit Inschriften wie FRAU REG.RAT oder JUNGFRAU, gefolgt vom jeweiligen Namen, standen. Auch Fotos gab es recht viele, von anderen Friedhöfen kenne ich das nicht.

Ich versuche, mich in die Welt auf den Bildern von Leonard von Matt zurückzuversetzen. Am besten gelingt das, wenn ich mich in Peter von Matts höchst anrührende Erinnerungen an seinen Onkel und dessen Frau versenke. Die Atmosphäre, die dieser schöne Text vermittelt, und fortan mein Betrachten leitet, lässt sich am besten mit den ersten Sätzen illustrieren. "Er war einer der freiesten Menschen, die ich je gekannt habe. Dieser Eindruck hat sich schon in meiner Kindheit gebildet. Als ich ein Schulbub war, begegneten Leonard und seine Frau Bobi uns Kindern so kameradschaftlich wie keine der Verwandten aus der Elterngeneration."

Es gibt noch weitere Texte in diesem Band. Von Patrizia Keller stammt die Einleitung, von Brigitt Flüeler die Schilderung von Leonards Werdegang vom Buchhänder zum Fotografen und von Sabine Münzenmaier die geschichtliche Einordnung des frühen fotografischen Werks. Es sind sehr informative Texte, die zumeist auf (unvermeidlichen und nachvollziehbaren) Annahmen (der häufige Gebrauch von 'dürfte', 'scheint' etc. macht dies klar) und nicht etwa auf gesichertem Wissen beruhen. Nichtsdestotrotz: Diese Texte  beeinflussen und lenken das Bilder-Betrachten. Und ich bin froh drum, denn auf mich alleine gestellt, ist die Gefaht grösser, nur das zu sehen, was ich eh bereits im Kopf habe. Was ich hingegen auch ohne die vielfältigen Hinweise sehen kann, ist, dass Leonard von Matt nicht nur über "das gute Auge" verfügt, dass einen Fotografen (Frauen sind mitgemeint) ausmacht, sondern auch über das Glück, den "richtigen" Augenblick zu erwischen. Man sehe sich (als Einstieg) die Aufnahmen auf den Seiten 39, 82, 132 oder 143 an ... 

Ein tolles Buch!

Leonard von Matt
Frühe Fotografien
Limmat Verlag, Zürich 2018

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