Sei Shōnagon, geboren um 966; gestorben um 1025, war eine Schriftstellerin und Hofdame am japanischen Kaiserhof. Ihre Impressionen von ihrer Zeit am Hofe hat sie im 'Kopfkissenbuch' niedergeschrieben. Dabei handelt es sich nicht um ein chronologisch angelegtes Tagebuch, wie Herausgeber und Übersetzer Michael Stein im Nachwort schreibt, „sondern um eine lose Aneinanderreihung assoziativ thematisierter Erinnerungen, die überwiegend undatiert sind.“ Hochtrabender kann man sich kaum ausdrücken.
Die Autorin selber schreibt hingegen klar und unprätentiös. Und erfreulich meinungsstark. „Auch wenn zwei Personen genau das Gleiche sagen, kann es je nach Sprecher völlig unterschiedlich klingen: in der Sprache von Priestern, in der Ausdrucksweise von Männern oder in derjenigen von Frauen. Wenn Ungebildete sprechen, machen sie garantiert zu viele Worte.“
Ich war bass erstaunt und freudig überrascht, als ich bereits auf den ersten Seiten las (denn so freimütig hatte ich mir eine Hofdame nicht vorgestellt): „Wenn Eltern ihren geliebten Sohn zum Priester machen, ist dieser wirklich zu bedauern. Und zwar deshalb, weil die Menschen einen Priester leider bestenfalls wie ein Stück Holz oder dergleichen ansehen. Priester essen abscheuliche vegetarische Kost, und darüber, dass sie gern ein Nickerchen halten, wird ebenfalls häufig gelästert. Wie ist es nur möglich, dass junge Männer, die doch sonst immer hinter den Frauen her sind, als Priester plötzlich einen extragrossen Bogen um Damengemächer schlagen und nicht einmal hineinzuspähen versuchen?“
Es ist allgemein üblich, ein Werk, das vor gut 1000 Jahren entstanden ist, aus historischer Perspektive zu betrachten. So weist Herausgeber Stein, der laut Verlagsinformation über die Heinan-Zeit (794-1185), die Epoche also, in der das 'Kopfkissenbuch' entstand, promovierte, im Nachwort darauf hin, dass dieses Werk „in erster Linie als Hommage und Reminiszenz an die verehrte Kaiserin Sadako verfasst worden ist und eine dunkle, ja, man kann wirklich sagen tragische Dimension besitzt, die im Text nur in Andeutungen durchschimmert.“
Mir selber liegt an der historischen wie auch der kulturellen Einstufung wenig, ich bin eher in Sachen „ewiger Wahrheiten“ unterwegs oder, weniger hoch gegriffen, an Weisheiten, die weder an Zeit noch an Ort gebunden sind. Wobei, es müssen auch nicht unbedingt weise Gedanken sein, oft genügen mir auch launisch-treffende Einschätzungen, die einigen immer schon eigen waren. So notiert Sei Shōnagon unter der Überschrift „Was selten gut ausgeht“ unter anderem: „Wenn ein notorischer Lügner eine wichtige Aufgabe mit einer Miene annimmt, als könnte er sie ebenso gut meistern wie andere.“ Oder besser als andere, ist man da, an Donald Trump (D.T.) denkend, versucht anzufügen.
Es ist gleichzeitig wohltuend und beunruhigend zu konstatieren, dass der Mensch seit 1000 Jahren (und mehr) offenbar noch immer dasselbe zu lernen hat – die Bereitschaft, zu staunen. So führt die Autorin zum Thema „Was man sich anschauen sollte“ etwa aus: „Die Schwertlilien, die vom 5. Monat her den Herbst und den ganzen Winter überdauert haben, sind unansehnlich, völlig ausgeblichen und vertrocknet, aber wenn man sie öffnet, ist es wundervoll, dass darin der Duft von einst noch enthalten ist!“
Immer wieder stosse ich bei der Lektüre auch auf Erheiterndes. Zum Thema „Was es leider nur selten gibt“ bemerkt sie unter anderem: „Leute, die überhaupt keine Macken haben.“ Und unter der Überschrift „Was einen trostlosen Anblick bietet“ hält sie etwa fest: „Jemand, der im 6. oder 7. Monat zur Stunde des Pferdes oder des Schafs einherschlurft und einen ausgemergelten Ochsen einen schäbigen Wagen ziehen lässt.“
„Mit ihrem 'Kopfkissenbuch' hat sich die Hofdame Sei Shōnagon dauerhaft in die Herzen ihrer Landsleute, in die japanische Literaturgeschichte und zugleich in die Weltliteratur eingeschrieben“, konstatiert Michael Stein im Nachwort, weist aber auch darauf hin, dass der Beifall für dieses Werk nicht einhellig war. So kritisierte die Schriftstellerin und Zeitgenossin Murasaki Shikibu Sei Shōnagon als eingebildet und oberflächlich. Mit anderen Worten: An der Heinan-Zeit Interessierte werden diesem Werk noch ganz anderes abgewinnen können, als ein historischer Banause wie ich. Dafür hat Herausgeber Michael Stein mit seinen umfangreichen und hoch differenzierten Ausführungen am Schluss dieses schön gemachten Bandes gesorgt.
Sei Shōnagon
Kopfkissenbuch
Manesse Verlag, München 2019
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