Am 7. Januar 2015 stürmten zwei maskierte Attentäter in Paris das Gebäude, wo sich die Redaktion von 'Charlie Hebdo' befand und richteten ein Blutbad an. Der Autor Philippe Lançon sass am Redaktionstisch und wurde schwer verletzt.
„Am Vorabend des Attentats war ich mit Nina im Theater.“ Gelungener könnte ein erster Satz gar nicht sein und natürlich bin ich sofort drin, in diesem hoch differenzierten, spannend zu lesenden und höchst persönlichen Buches. 'Was ihr wollt' von Shakespeare wurde an diesem Abend gegeben.
Rückblende: Bagdad vor dem amerikanischen Ultimatum. Der Autor, damals siebenundzwanzig, ist als Journalist vor Ort. „Mein Sinn für die Geschichte war durch das, was ich sah, begrenzt, mein Respekt für ihre Macher tendierte gegen null – zumindest in dieser männlichen, schnauzbärtigen Region der Welt.“ Eitle Egomanen, mit denen uns die Journalisten, diesen häufig nicht unähnlich, täglich füttern.
Houellebecqs 'Unterwerfung', Hemingways 'Paris, ein Fest fürs Leben', des Autors Bewunderung für Raymond Aron, „der für mich all das repräsentierte, was mir selbst zu fehlen schien: mit Vernunft gepaarte Bildung“, die morgendliche Konferenz bei 'Charlie Hebdo', reich an Humor und Pöbeleien ... Philippe Lançon beschreibt, was ihm so durch den Kopf geht, hin und her, vor und zurück, wie das eben im richtigen Leben, im Kopf und in den Gefühlen so ist. Sehr dicht, der Mut zur Lücke fehlt, er will die Kontrolle über sein Leben wieder gewinnen.
Und er stellt 'Charlie Hebdo' in den „richtigen“ Zusammenhang: „Die Zeitung zählte nur noch für ein paar Getreue, für die Islamisten und für alle möglichen mehr oder weniger zivilisierten Feinde: angefangen bei den Jugendlichen aus der Banlieue, die sie nicht lasen, bis hin zu den ewigen Freunden der Verdammten dieser Welt, die sie gerne als rassistisch titulierten.“
Das Attentat, bei dem ihm der Unterkiefer zerschossen wurde („Die beiden oberen Drittel des Gesichts waren intakt“, sagte die Krankenschwester im Spital), schildert er als etwas gänzlich Unwirkliches. Schüsse und 'Allah Akbar' Rufe sind zu hören. Er liegt am Boden und erkennt in einem Meter Entfernung den Freund und Kollegen Bernard, dessen Gehirn „leicht aus dem Schädel quoll. Bernard ist tot, sagte mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreissen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war.“
Er selbst ist getroffen, verletzt, steht unter Schock („ich war in einer anderen und doch in dieser Welt“), will seine Mutter anrufen, kann nicht reden, was er aber nicht wirklich wahrnimmt „Ein paar Zahnstücke schwirrten von rechts nach links und von links nach rechts durch meinen Mund, meine Zunge spielte damit wie mit Krümeln, und ich merkte, dass ich mich möglicherweise undeutlich artikulierte.“ Sanitäter kommen, er will sich nicht von seinem Handy trennen, versucht die Krankenversicherungskarte und seinen Personalausweis herauszunehmen – die müssen doch wissen, wer er ist!
Es mutet beängstigend surreal an, wie Philippe Lançon seine Situation und Wahrnehmung beschreibt, obwohl er instinktiv nichts anderes tut, als sich an Vertrautes zu halten. So will er im Krankenhaus den Air France-Flug nach New York stornieren. Er hält fest: „Ich wäre fast gestorben und will mir von Air France mein Ticket erstatten lassen. Der Kleinbürger überlebt alle.“ Nun ja, mit Kleinbürger hat das wenig zu tun, eher mit Sich Orientieren an dem, was man kennt und in den Griff kriegen kann, da alles andere uns überfordert.
282 Tage bleibt er insgesamt im Krankenhaus gefangen. Er beobachtet, denkt nach, sein Geist wandert, seine Überlegungen entbehren nicht des Humors. Über eine junge Krankenschwester notiert er: „Jemand mit mehr Erfahrung half ihr eine Vene zu finden. Sie war verärgert. Während ich schwer atmend in meinem Bett lag, sah ich ihr zu und fragte mich, ob mein Leben tatsächlich von jemandem abhängen konnte, der derartig stur und, mehr noch, derartig jung war.“
Unter anderen besucht ihn auch Gabriela, die er vorgehabt hatte, in New York zu besuchen. Sie will nicht, dass er sich mit dem Attentat beschäftigt und ermuntert ihn, an etwas Positives zu denken, zum Beispiel an eine Landschaft, die er mag. Doch er funktioniert anders und sucht nach allem, „was nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen leichenartig wieder an die Oberfläche trieb.“
Sein Unterbewusstsein fabriziert dabei einen faszinierenden (immer auch ausgesprochen literarischen – von Balzac, Proust, Queneau zu Gérard de Villiers) Mix und an diesem lässt Philippe Lançon den Leser in „Der Fetzen“ teilhaben. Eine Lektüre, die lohnt!
Philippe Lançon
Der Fetzen
Tropen, Stuttgart 2019
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