Wednesday, 11 September 2019

Desperation Road

Es gibt Bücher, die ich gar nicht besprechen mag – weil sie so gut sind. Genauer: nicht auf eine konventionelle Art besprechen mag, also schildern, worum es geht, wer darin und wie vorkommt etc. etc. Desperation Road von Michael Farris Smith ist so ein Buch, das mich nicht wegen der Geschichte, die da erzählt wird, in seinen Bann schlägt, trotz der cleveren Rahmenhandlung: Zwei ganz unterschiedliche Leben treffen aufeinander; das von Russell Gaines, der elf Jahre im Gefängnis sass, doch nun feststellen muss, dass ihn die Vergangenheit nicht ruhen lassen wird, und das von Mabel, einer jungen Mutter, die gerade einen Deputy erschossen hat. Doch auch wenn ich nicht die Geschichte nacherzählen will, soviel sei verraten: vor allem in der zweiten Hälfte wird es spannend.

Es ist das Atmosphärische, das mich für diesen Roman einnimmt, der mich auf eine Kopfreise in den gewalttätigen Süden der Vereinigten Staaten mitnimmt, einem Amerika, das man nicht findet in den politischen Sendungen einschlägiger Fernsehstationen, einem realistischen Amerika. Schon nach den ersten paar Seiten fühle ich mich vor Ort, tauchen diese ungeheure Weite, die Diners, die Parkplätze vor den Supermärkten, die billigen Motel-Ketten in meinem Kopf auf. Und ein paar Seiten später  bricht sich dann bereits wieder die allüberall in diesem Amerika lauernde Gewalt Bahn. Was für ein brutales Tier ist doch der Mensch!

Desperation Road lese ich langsam. "Aus dem Truck steigen, das .22er Gewehr aus der Halterung hinter dem Sitz nehmen und einen knappen Kilometer weit gehen, bis der Boden weich und sumpfig wird, und dann mit hohen Schritten weiter, um nicht einzusinken, bis zu einem Ein-Mann-Boot, das an einer Weide vertäut ist. Schmutzig bis zu den Knien hineinsteigen und hinauspaddeln in den Sumpf und lauschen und beobachten und spüren, wie man ein Teil des Ganzen wird."

Michael Farris Smith ist ein talentierter Beobachter. "Zwischen ihnen Stille. Aber eine andere Art von Stille. Eine geteilte Stille." Und ein Meister der No-Nonsense Dialoge 
"Ich hab etwas getan, was jeder andere auch getan hätte, 
und es ist vorbei, und das war's auch schon."
"Würdest du es wieder tun?"
"Ich wüsste nicht, warum nicht."
"Dann hör auf, dir einen Kopf zu machen."
"Wir wissen beide, dass es so nicht läuft."

Desperation Road ist  auch ein Roman über Moral. Die christliche Idee der Vergebung stösst Russell auf. "Es war immer wieder die gleiche Geschichte. Ja, ich habe vergewaltigt. Ja, ich habe ein Leben genommen. Ja, ich habe gestohlen. Ja, ich habe eine Faust gegen meinen Mitmenschen erhoben. Aber jetzt habe ich die Liebe Gottes gefunden. Jetzt kann ich das Licht sehen. Ich habe den rechten Weg gefunden und so weiter und so weiter, das Ganze zu zig Amens und Hallelujas und Lobet den Herrn. Er glaubte nicht, dass es so funktionierte, und wenn doch, dann schien irgendwas nicht richtig zu sein."

Nicht zuletzt handelt Desperation Road von der Vergangenheit, die nie wirklich vergangen ist und auch nicht vergeht, sondern immer präsent ist. Seien es die Wut und die Ressentiments, die man nicht verlieren will, sei es die Liebe, der man an- und nachhängt, auch wenn die Beziehungen schon längst in die Brüche gegangen und durch neue ersetzt worden sind.

Die Vorstellung, dass letztlich die Wahrheit obsiegt, ist falsch, denn bestimmend ist, was die Menschen glauben und nicht das, was wirklich geschehen ist. Doch manchmal deckt sich das ja auch.

Michael Farris Smith
Desperation Road,
ars vivendi, Cadolzburg 2018

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