"Der perfekte Augenblick an den schönsten Orten der Welt" verspricht der Untertitel zu diesem Werk, das interessanter ist als es dieser der Werbung und dem Verkauf, den wesentlichen Kennzeichen unserer Zeit, geschuldete Superlativ vermuten lässt. So recht bedacht ist es ja eigentlich klar: Jeder Augenblick ist perfekt und den schönsten Ort, den gibt es nicht – doch das wäre eine andere Geschichte.
Um es gleich vorwegzunehmen: Let's Get Lost ist ein wirklich tolles Buch. Nicht nur der beeindruckenden Fotos wegen, sondern weil es den Prozess des Fotografierens dokumentiert. Konkret: Man erfährt, wie die Fotografinnen und Fotografen zu ihren Bildern gekommen sind. So erzählt etwa Jonathan Gregson, wie er sich um 4:30 mit seinem Guide auf den Weg machte, mit 20 kg Gepäck auf dem Rücken, um die Drei Zinnen, eines der Wahrzeichen der Dolomiten, bei Sonnenaufgang zu fotografieren. "Aus Fotografensicht ist das Zeitfenster bei Sonnenaufgang viel kleiner als bei Sonnenuntergang. Für eine Aufnahme bei Sonnenuntergang kann man früh ankommen, die beste Perspektive wählen und dann warten. Wenn die Sonne untergeht wird das Licht kontinuierlich besser (...) Sonnenaufgänge hingegen erlauben keine Fehler. Normalerweise ist die Wahl der Perspektive, des Objektivs und des Bildaufbaus ein Wettlauf mit der Zeit, bevor die Sonne ihre volle Kraft entfaltet."
Solche Informationen sind selten in einem Fotobuch und mir ein Grund, weshalb ich dieses Werk schätze. Denn Fotos, diese zweidimensionalen Reduktionen einer dreidimensionalen Wirklichkeit, die weder klingen noch riechen, können vieles nicht zeigen. Dazu gehört der heftige Wind, auf den Alex Strohl und sein Wanderpartner auf der Livingstone Range in Montana trafen. "Der Wind trug zu unserem Abenteuer bei und erinnerte uns daran, dass uns Orte wie dieser nur zur Durchreise dienen." Mit diesem Wissen im Kopf, betrachte ich diese Bilder wiederum anders.
Das Buch ist unterteilt in Gebirge, Karge Natur, Küste, Eis & Schnee, Flüsse & Seen und Wälder. Die Fotos zeigen mir einerseits Gegenden, die ich aus eigener Anschauung kenne (Namibia, zum Beispiel), aus einer neuen Perspektive. "Es ist ein seltsames Gefühl, durch das Land zu streifen, ohne auch nur einer Seele zu begegnen – ein Gefühl, das zur einzigartigen Atmosphäre Namibias beiträgt. In den Weiten der Wüste, unter der brennenden Sonne, erfüllt der zitrusartige Duft von Myrrhe die Luft. Voller Ehrfurcht wanderte ich zwischen Baumgerippen durch die sonnenversengte Ebene." (Emilie Ristevski). Andererseits erfahre ich von Gebieten, die mir gänzlich neu sind und nicht nur meine Neugier wecken, sondern auch den Wunsch, mich unverzüglich dorthin aufzumachen. Die Bilder, die Finn Beales von Fogo Island, vor der Nordostküste Neufundlands gelegen, gemacht hat, hatten diesen Effekt auf mich.
Manchmal regten mich besonders die Fotografien an (die Flüsse in Schwedisch-Lappland Tobias Hägg; die Gipsdünen im Tularose-Becken in New Mexico – Laura Pitchett), dann wieder die jedem Beitrag beigegebene Rubrik "Durch den Sucher". So schreibt etwa Greg Lecoeur (Antarktis): "Denken Sie immer daran: In der Natur sind Sie der Gast, die Tiere sind in ihrem Zuhause. Wildtiermomente sind allgegenwärtig; man muss sich nur die Zeit nehmen, zu beobachten und die Schönheit des Ortes zu verstehen."
Let's Get Lost erinnerte mich auch immer wieder daran, dass Fotos Momentaufnahmen sind, abhängig von einer Vielzahl nicht wirklich berechenbarer Faktoren. "Nebel ist oft recht flüchtig", notiert Mats Peter Iversen, der im Waldgebiet von Hestehave Skow, Dänemark, fotografiert hat und dabei auch die Erfahrung machte: "Sich ein wenig zu verirren, ist oft der beste Weg, neue Orte zu entdecken."
Fazit: Grossartig! Eine inspirierende Einladung, die Welt zu erkunden.
Let's Get Lost
Der perfekte Augenblick
an den schönsten Orten der Welt
Herausgegeben von Finn Beales
Prestel, München-London-New York 2022
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