Sunday 10 April 2022

Nicolas Chamfort

Ich wusste nicht, wer Nicolas Chamfort ist, als ich zu diesem Buch griff. Angesprochen hatte mich der Titel Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen, denn ich schätze eigenständige Denker. Aus Albert Camus' eher mühsam zu lesenden Vorwort erfahre ich, dass die Handlung am Ende des 18. Jahrhunderts spielt, "in den Kreisen einer Gesellschaft, der es an Kraft, wenn auch nicht an Grazie fehlt und deren einzige Beschäftigung darin zu bestehen scheint, auf Vulkanen zu tanzen." Was man so recht eigentlich, wie ich finde, fast von jeder Gesellschaft sagen kann. Wie Camus hingegen Chamfort charakterisiert ("Chamfort setzt seine Welterfahrung nicht in Formeln um.") hat meine Sympathie und dass er ihn an Stendhal erinnert, verdoppelt sie geradezu.

Was ist ein Philosoph?, fragt Chamfort und antwortet wie folgt: "Ein Mensch, der dem Gesetz die Natur, dem Brauch die Vernunft, der öffentlichen Meinung sein Gewissen und dem Irrtum sein Urteil gegenüberstellt." Er spricht sich also nicht einfach für die  Vernunft aus, denn er weiss um ihre Tragik. "Unsere Vernunft macht uns manchmal ebenso unglücklich wie unsere Leidenschaften, und von dem Menschen, der sich in einer solchen Lage befindet, kann man sagen, dass er ein Kranker ist, den sein Arzt vergiftet hat."

Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen ist ein sowohl geistreiches als auch witziges Werk, das unsere Illusionen über uns selber an ihren Platz verweist. "Die Menschen sind so verdorben, dass die blosse Hoffnung oder sogar der blosse Wunsch, sie zu bessern, sie vernünftig und ehrbar zu sehen, eine Absurdität ist, eine überspannte Idee, die man nur der Einfalt der ersten Jugend nachsehen kann." Ganz offenbar sind Selbstverbesserungsvorstellungen keine moderne Erscheinung. Eine besonders nüchterne Auffassung der menschlichen Natur, so lerne ich, ist in Italien heimisch. "Die Italiener sagen: Sotto ombelico nè religione nè verità."

Nicolas Chamfort hat sich zu ganz Unterschiedlichem Gedanken gemacht. "Von der Gesellschaft, den Grossen, den Reichen und den Leuten von Welt" heisst ein Kapitel, ein anderes "Vom Geschmack am zurückgezogenen Leben und von der Würde des Charakters", noch ein anderes "Über Frauen, Liebe, Ehe und Galanterie". Ich überfliege vieles, auch mag ich mich mit Chamforts Verachtung der Frauen nicht befassen, konzentriere mich auf die mir nützlich erscheinenden Ausführungen. "Wir sollen nicht nur verstehen, mit denen zu leben, die uns richtig einschätzen können: solche Eigenliebe wäre zu empfindlich und zu schwer zu befriedigen. Aber unser eigentliches Leben sollten wir nur mit denen teilen, die wissen, wer wir sind. Selbst der Philosoph tadelt nicht eine derartige Eigenliebe."

Speziell aufschlussreich fand ich die Rede, die im Jahre 1767 den Preis der Akademie von Marseille erhalten hat, worin er unter anderem darauf aufmerksam macht, wie verschieden doch die Natur den Menschen gemacht hat. "Welch unermesslicher Abstand besteht zwischen einem plumpen Wilden, der kaum zwei oder drei Vorstellungen miteinander verknüpfen kann, und einem Genie wie Descartes oder Newton!" Und was schliesst er daraus? "Nutzt eure Macht, um das Genie zu beschützen, das eure Macht vergrössern soll; befreit diese friedlichen Gesetzgeber der Vernunft, die nur zugunsten eures Ruhms und für das Glück der Menschheit reden, vom Wüten des Neides und des barbarischen Vorurteils, und erinnert euch daran, dass es nicht in eurer Gewalt steht, eure Untertanen zu zwingen, ihnen den Gehorsam zu versagen."

Fazit: Anregend, provozierend, realistisch.

Nicolas Chamfort
Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen
Matthes & Seitz Berlin 2022

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