Bereits auf den ersten Seiten von Fehldiagnose. Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten wird mir klar, dass ich mir unter diesem Titel etwas gänzlich anderes vorgestellt habe als eine "Fundamentalkritik an der Ampelregierung". Vorgestellt habe ich mir etwas Fundamentaleres: Eine Kritik an der Idee des Wirtschaftswachstums sowie an dem Wahnsinn, dass wir sämtliche Gesellschaftsbereiche von Ökonomen dominieren lassen. Stattdessen plädiert Tom Krebs dafür, sich von der Märchenwelt der sich selbstregulierenden Märkte zu verabschieden "und das alte Marktdogma durch eine realistische Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft zu ersetzen."
Es gelte, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und gleichzeitig eine positive Vision der Zukunft zu bieten, so Professor Krebs, der sich genau darum bemüht. Eines der Probleme besteht allerdings darin, dass der Mensch und seine Sorgen von der Politik noch nie ernst genommen worden sind. Auch ist alles andere als wahrscheinlich, dass sich das je ändern und es wohl bei Lippenbekenntnissen bleiben wird. Weil es weniger um die Ökonomie als um die menschliche Natur geht – und dieser ist Veränderung, auch die zum Guten, nicht wirklich geheuer. Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn ich mich täuschen würde.
Einleuchtend zeigt der Autor auf wie der Ukrainekrieg zu einer Energiekrise beispiellosen Ausmasses geführt hat. Erstaunlicherweise wurde diese jedoch von führenden Ökonomen nicht als solche wahrgenommen. Eine Fehldiagnose, meint Tom Krebs, dessen Argumente bestens nachvollziehbar sind.
Dass man dieselben Fakten sehr unterschiedlich interpretieren kann, ist nichts Neues. Dass die Interpretation immer auf einer Grundhaltung basiert, wird jedoch eher selten klar benannt. Professor Krebs gehört zu den Ausnahmen – er macht kein Geheimnis daraus, wo seine Präferenzen liegen: Nicht bei denen, die sich dem Wirtschaftsliberalismus verschrieben haben und sich stets gegen die Arbeitnehmerinteressen sowie die Besteuerung von Vermögen positionieren.
Wie so oft stehen sich auch in der Ökonomie zumeist unversöhnliche Grundhaltungen gegenüber, die dann nichtsdestotrotz recht erbittert diskutiert werden, doch, jedenfalls gemäss meiner Einschätzung, selten jemand umstimmen können. Das eindrücklichste Beispiel aus der jüngeren Zeit sind die Anhänger des gegenwärtigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA, der eindeutig nicht alle Taschen im Schrank hat, was jedoch seine Anhänger nicht im mindesten zu beeinflussen scheint. Mit anderen Worten: Dieses Buch richtet sich an alle, die ernsthaft guten Willens sind, um sich sachlich auseinanderzusetzen.
Unter dem Titel "Neoliberale Nebelkerzen" kommt auch der gesetzliche Mindestlohn zur Sprache. Die Argumente dagegen sind nicht wirklich ernst zunehmen, so der Autor, denn nur die Arbeitgeberseite und die obere Mittelschicht profitieren von einer Ablehnung. Mir persönlich scheinen 15 Euro vollkommen lächerlich; dass jemand, der dagegen votiert, sich selber mit 15 Euro zufriedengeben würde, kann ich mir nicht vorstellen.
Am Rande: Studierte allgemein und Hochschulprofessoren im Besonderen (Tom Krebs unterrichtet an der Uni Mannheim) bedienen sich in der Regel einer Sprache, bei der man sich unweigerlich fragt: Wo leben die eigentlich? In Sachen 15 Euro gesetzlicher Mindestlohn liest sich das dann so: "Es passiert also sehr wenig, obgleich der aktuelle Zustand mehrheitlich als nicht gerecht empfunden wird. Dies deutet darauf hin, dass der demokratische Prozess in diesem Fall versagt." Auf Deutsch: Der aktuelle Zustand ist menschenverachtend; der demokratische Prozess ist ein Euphemismus für profitgetriebene Interessensdurchsetzung.
Wie eingangs angedeutet, mein Interesse an der Ampelregierung ist gering (auch natürlich, weil ich davon als Schweizer nicht direkt betroffen bin), was man jedoch gegen eine Kindergrundsicherung, mit der die Kinderarmut bekämpft werden soll, haben kann, entzieht sich mir. Die grundsätzliche FDP-Kritik stehe stellvertretend für die regelmässigen Angriffe auf den Sozialstaat aus dem liberal-konservativen Lager, erfahre ich. So weit, so klar, doch Autor Tom Krebs schreibt: "Es ist daher lohnenswert, einen genaueren Blick auf die Kritik von Christian Lindner an der Kindergrundsicherung zu werfen."
Warum das lohnenswert sein soll (ausser für Professoren, die damit ihr Brot verdienen) entzieht sich mir. Ich brauche nicht zu wissen, warum jemand gegen etwas ist, denn dass er dagegen ist, zeigt mir, wie er denkt. Mit anderen Worten: Das Denken zeigt sich im Handeln. Lindners Denken gehört nicht analysiert, sondern bekämpft ... doch das wäre dann vermutlich kein Buch.
Dass Fehldiagnose nichtsdestotrotz lohnt, ersieht man aus den Kapitelüberschriften, die auf den Punkt bringen, worum es dem Autor geht. Hier drei Beispiele: "Eine Märchenwelt uneingeschränkter Freiheit und effizienter Märkte"; "Klimafreundliches Verhalten fördern, nicht die vermeintlichen Klimasünder bestrafen"; "Abwarten ist keine Option". Tom Krebs plädiert für ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit. Was genau er darunter versteht, legt er in diesem Werk dar. Jetzt muss er nur noch gehört werden!
Tom Krebs
Fehldiagnose
Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten
Westend, Neu-Isenburg 2024
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