Wednesday, 26 November 2025

Hannah Arendt: Ein Leben

"Willi Winkler ist ein phantastischer Erzähler", wird Claudius Seidl auf dem Schutzumschlag zitiert. Und so sehr ich Kollegenlob gegenüber skeptisch bin: Recht hat er. Dieses Werk ist ein packender Lesegenuss erster Güte.

Eine menschenwürdige Existenz, so Hannah Arendt im Jahre 1946 (sie befand sich damals in einem fremden Land, dessen Sprache ihr neu war, und musste völlig neu anfangen), sei nur am Rande der Gesellschaft möglich, "wobei man dann eben mit mehr oder weniger Humor riskiert, von ihr gesteinigt oder zum Hungertode verurteilt zu werden." Angesichts ihres späteren Lebens, dem es an Anerkennung nun wirklich nicht gemangelt hat, wirkt das reichlich melodramatisch und zeugt von eitler Selbstbezogenheit, die im Laufe ihres Lebens nicht weniger werden wird.

Hannah Arendt: Ein Leben ist ein ungeheuer dichter Text und derart differenziert, dass es einen gelegentlich fast erschlägt. Diese gewaltige Fleissarbeit überzeugt nicht zuletzt dadurch, dass sie Widersprüchlichkeiten nicht aufzulösen versucht, sondern abbildet, und dabei auch Stellung bezieht. Ein einfacher, klar zu fassender Charakter war Hannah Arendt eindeutig nicht.

Überaus spannend und aufschlussreich ist, was man alles über die vielfältigen geschichtlichen Vorkommnisse sowie Personen wie Heidegger, Jaspers, Brecht, Ingeborg Bachmann, Hans Magnis Enzensberger oder Golo Mann erfährt. Nur wenigen dieser sogenannten Geistesgrössen fühlte ich mich zugetan, allzu oft dachte es so in mir: viel Hirn, wenig Verstand. Und Herz schon gar nicht. Stattdessen derart von der eigenen Wichtigkeit überzeugt, dass es einen richtiggehend graust.

Sie flieht vor den Nazis nach Paris, trennt sich von ihrem Mann, lernt Heinrich Blücher kennen, der in Berlin nur gerade ein paar Strassen weiter gewohnt hatte. Sie könnten von ihrer Herkunft her unterschiedlicher nicht sein, heiraten. "So unnachgiebig sie sonst ihre Positionen verteidigt, bei diesem Mann ist sie nachgiebig." Auch bei Brechts Loyalität zu Stalin, die sie lediglich als "Sündenfall" beurteilte, war das so. Heidegger vergab sie offenbar so ziemlich alles. Ihre private Moral war sehr  flexibel.

Kein Leben geschieht in einem luftleeren Raum, weshalb in dieser Biografie denn auch viel Kontext zu finden ist, der einer recht überschaubaren akademischen Welt eine Bedeutung verleiht, über die sich der Laie gelegentlich wundern mag. Immer mal wieder kann man zudem lesen, dass viele der alten Nazis auch nach 1945 einflussreiche Posten besetzten. Auch im Verlagswesen.

Es ist eine überaus lehrreiche Lektüre, die Willi Winkler hier vorlegt, da man fast genauso viel über Hannah Arendts Zeitgenossen erfährt wie über sie selber. Befremdend ist jedoch, was für eine Wichtigkeit etwa Vorträgen, Vorlesungen, Aufsätzen, Büchern und Meinungen zugeschrieben wird. Was kümmert mich Walter Benjamins Einschätzung, die Lektüre der Gedichte Rilkes sei 'Entartung' und Teil einer 'Schule asozialen Verhaltens'? Oder andersrum: Wie kann man jemanden, der solchen Schwachsinn von sich gibt, eigentlich ernst nehmen? Derselbe Benjamin war übrigens lange "Brechts Verharmlosungen der Moskauer Prozesse und ihren brutalen Säuberungen wehrlos erlegen."

Hannah Arendt: Ein Leben ist reich an Details, die sich mir, jedenfalls einige von ihnen, ins Hirn eingegraben haben, so etwa Louis-Ferdinand Célines Pamphlet Bagatelles pour un massacre, in dem er "die Massakrierung aller Juden" vorschlug. Oder dass es auch 1940 eine Bewegung "America First!" gab, die sich dem Zustrom europäischer Flüchtlinge widersetzte. Oder dieser Satz aus Norman Mailers Brief an Kennedy in der "Village Voice" nach der gescheiterten Kuba-Invasion: "Sie dringen in ein Land ein, ohne seine Musik zu kennen."

Nach dem Krieg besucht Arendt auch Heidegger, ihren ehemaligen Professor und verheirateten Liebhaber, "der sich nicht zum kleinsten Schuldbekenntnis wegen seiner Unterstützung der Nazis herbeilassen will." Auch Frau Heidegger, eine Antisemitin sondergleichen, wird sie bei einem gemeinsamen Frühstück kennenlernen. "Bei alldem hat Hannah Arendt erstaunlicherweise nicht den Verstand verloren", kommentiert Willi Winkler. Ganz so, als ob bei der ganzen Heidegger-Geschichte viel Verstand im Spiel gewesen wäre.

Anlässlich einer Tagung in Mailand über "Die Zukunft der Freiheit", an der "erlauchte Namen" zugegen sind, empört sie sich über den Luxus. "Alle vollkommen und auf das primitivste korrumpiert." Konsequenzen zieht sie (wieder einmal) nicht. "Auch wenn sie sich in Mailand gerade über die kongressfinanzierten Spesenritter und -ritterinnen echauffiert hat, gehört sie doch selber dazu." 

Prominent kommt auch "Eichmann in Jerusalem" zur Sprache. Arendt fühlt sich nicht wohl in Israel, erlebt vor Ort, was die Israelis an den Nazis kritisieren und teilweise auch selber praktizieren. Willi Winkler beurteilt ihre Haltung, mit der sie auch in den Gerichtssaal gehe, als "Mischung aus amerikanischem Snobismus und deutschem Dünkel." Das trifft zweifellos zu, doch ihre Vorbehalte gegen den staatsgewordenen Zionismus sind, angesichts der jüngeren Ereignisse in Gaza und im Westjordanland, fast schon hellseherisch.

Wie der Autor Arendts Berichterstattung über diesen Prozess sowie die Geschehnisse drumherum kommentiert, ist erhellend. "Ein Schauspiel nur", lautet ein Zwischentitel; aufgefallen ist das wenigen. Die Resonanz auf "Eichmann in Jerusalem" war hingegen gross und sehr kontrovers, entlang der bereits über Arendt gemachten Meinungen. Gelegentlich überkam mich der Gedanke, Hannah Arendt: Eine Leben sei möglicherweise die einzig ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer Person und ihren Ideen.

So sehr dies eine überzeugende Biografie ist, es geht weit darüber hinaus, da es auch viele Aspekte der Weltgeschichte nachvollziehbar macht, wie etwa die Kommunistenhatz in den USA oder die Ermordung von J.F. Kennedy. An den besorgten Jaspers schrieb sie damals: "Es ist, als sei dem Land plötzlich die Maske vom Gesicht gerissen." Das erfahren wir derzeit gerade wieder von Neuem. Genauso wie die Spaltung des Landes, die es auch zur Zeit des Vietnamkrieges gab.

Es sind die vielen Infos, die viel mehr als Anekdoten und überaus aufschlussreich sind, die dieses Werk wesentlich auszeichnen. So bezeichnete der neidische Nabokov Pasternaks Doktor Schiwago als "einen Schundroman und die Veröffentlichungsgeschichte für ein Werk der russischen Propaganda mit dem Ziel, Devisen zu vereinnahmen." Und Saul Bellow charakterisierte Hannah Arendts Salon am Riverside Drive mit: "Für ihre amerikanischen Freunde war es aussichtslos, in ihren erhabenen Bereich aufgenommen zu werden. Wir waren nett, aber um ernst genommen zu werden, nicht gebildet genug."

Hannah Arendt: Ein Leben klärt nicht nur vielfältig auf, sondern unterhält auch und hat mich oft lachen gemacht. Zudem: In den sogenannt gebildeten Kreisen scheint Neid und Überheblichkeit in einem Übermass vertreten. Zur Frage der Übersetzung von "Eichmann in Jerusalem" ins Deutsche, meinte Arendt: "Heinrich Böll kommt vielleicht in Frage, keinesfalls aber Grass." Die "Blechtrommel" befand sie "für eher epigonal."  

Nicht zuletzt ist Hannah Arendt: Ein Leben ein Buch darüber, wie man mit der Vergangenheit umgeht. Dass die meisten versuchen, ihr Verhalten schönzureden, ist wohlbekannt; es detailliert vorgeführt zu kriegen noch einmal etwas anderes. Hannah Arendt gehörte in ihren öffentlichen Verlautbarungen nicht zu diesen meisten. "Macht beginnt immer dort, wo die Öffentlichkeit aufhört."

Dass und wie es der Autor geschafft hat, aus dieser Informationsfülle ein nicht nur ausgesprochen lesbares, sondern ein wirklich spannendes und unterhaltsames Buch zu machen, ist eine Meisterleistung, auch wenn er sich gelegentlich wiederholt, was bei dieser Informationsfülle kaum zu vermeiden ist – und auch gar nicht stört, da es so vielleicht eher im Gedächtnis bleibt.

Willi Winkler
Hannah Arendt
Ein Leben
Rowohlt, Hamburg 2025

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