Sunday, 30 November 2025

In einem Käfig voller Lügen

 “… mad at the Chinese for lying so much.”
(Maxine Hong Kingston. The Woman Warrior).

Im Bus nach Quanzhou haben Chris und Johanne gesehen wie der Billetkontrolleur von drei jungen Männern durchs Feld gejagt und schliesslich blutig geschlagen wurde.

Im Winter hat sich ein Mann aufs Universitätsgelände geflüchtet, wo er von einem aufgebrachten Mob fast gelyncht worden ist. Er hatte ein Motorrad gestohlen.

Im Nebengebäude ist im letzten Semester eine chinesische Lehrerin von ihrem früheren Freund mit dem Messer angegriffen und verletzt worden.

Vor ein paar Tagen musste Lynn ins Spital nach Quanzhou eingeliefert werden. Er war ein paar Mal bewusstlos zusammengebrochen, hatte hohes Fieber, sein Hals war angeschwollen und ganz rot, er konnte nicht mehr essen.

Chris hatte am selben Tag mit Lynn zu Mittag gegessen. Dabei äusserte Lynn, er habe Angst, er hoffe, er komme hier gesund raus. Die tun dir nichts, hatte ihn Chris beruhigt. Fünf Stunden später traten die ersten Symptome auf.

Möglicherweise eine Vergiftung, sagt Chris.

Lynn glaubt, die Administration habe es auf ihn abgesehen, wolle ihm zurückzahlen, dass er sich hier nicht konform verhalten habe. Er sei übers Wochenende nicht hier gewesen, es hätte jemand also ohne weiteres in sein Appartement rein und da was ins Trinkwasser geben können.

Da Lynn schon mal einen Schüler in die Ecke stehen und nicht wenige durchfallen lässt, vermute ich eher einen Racheakt eines Schülers.

Weder Chris und Johanne, weder Lynn noch ich selber kennen den offiziellen Befund des Spitals, wir halten uns damit auch gar nicht auf. Wir zählen nicht darauf, dass uns hier jemand die Wahrheit sagt.

Zusammen mit anderen Ausländern – insgesamt 26 aus verschiedenen Ländern – unterrichten wir an einer Schule, die sich Universität nennt, jedoch eine solche nur dem Namen nach ist, in der Nähe von Quanzhou, einer 7-Millionen-Stadt in der Provinz Fukkien, in Chinas Süden.

Das Gelände ist mit Toren und Wachen gesichert, die Beziehungen zwischen der Polizei und der Universität, sagt der Vice President, exzellent. So gut, dass unsere hier ausgestellten Arbeitsvisa mit einem falschen Ablaufdatum versehen sind – ein allfälliges Abhauen soll uns teuer zu stehen kommen.

Wir stehen unter dauernder Beobachtung, werden bewacht. Um die vierzig Polizisten in Zivil sollen auf dem Gelände aktiv sein, vielleicht sind es aber auch bis zu hundertzwanzig. Nach ein paar Wochen beginnt man jedem Gerücht zu trauen.

Unterhalte ich mich auf der Strasse mit einem der anderen ausländischen Lehrer, kommt es oft vor, dass ein Chinese sich unserem Schritt anpasst und neben uns her geht. Wir wissen, dass sie unser Gespräch belauschen. Mit Kollegen, die Französisch sprechen, wechsle ich dann die Sprache.

Wer die Frau wohl ist? wundert sich Nisha, die Information Management Systems unterrichtet, als wir sehen, wie sich Sunny, die jeden Montag bei mir putzt, auf ihr Motorrad setzt. Für eine Putzfrau ist die viel zu gut gekleidet, fügt Nisha hinzu.

In jeder Klasse gibt es Schüler, deren Aufgabe es ist, dem Vice President über das Tun und Lassen des Lehrers zu berichten. Natürlich sind wir Lehrer davon nicht in Kenntnis gesetzt worden, wir erfahren davon von Lehrern, die schon im letzten Semester hier waren.

Die Studenten haben es alle, mangelnder Leistungen wegen, nicht in eine reguläre Universität geschafft. Die Studiengebühren sind hoch, damit werden die Diplome bezahlt.

In einer Kultur, wo der Schein alles gilt, wird dieser eben gekauft. Als der sehr reiche Eigentümer der Schule mit dem sehr einflussreichen Mann, der für die Vergabe der Einstufungen zuständig ist, zusammensass und um die Bezeichnung ‘Universität’ nachsuchte, meinte der einflussreiche Mann wegwerfend: “Es ist doch nur eine Name.” So will es die Legende.

Den musst du unbedingt kennen lernen, sagt Ben, ein Lehrer-Kollege, nach eigenen Angaben 54 (einige halten ihn für wesentlich älter) Jahre alt, ein Anbiederer und Gerüchteverbreiter. Der Junge, den ich unbedingt kennenlernen soll, ist der Präsident der Student Association. Ich wüsste nicht, weshalb ich den kennenlernen sollte und gebe mich entsprechend unkooperativ, ich weiss hingegen, weshalb es für Ben wichtig ist, mit dem Jungen ein gutes Verhältnis zu haben – die Student Association führt Dossiers über die einzelnen Lehrer und da Ben mit Studentinnen rummacht (dies ist verboten), ist er erpressbar und davon wird Gebrauch gemacht.

Von zwei meiner ausländischen Lehrerkollegen weiss ich, dass sie mit der Vorstellung im Kopf rumlaufen, sie könnten von einer Gruppe Studenten zusammengeschlagen werde.

Die Studenten sind auch wirklich einmal gewalttätig geworden. Vor zwei Jahren haben sie gegen die stinkenden und engen Studentenunterkünfte protestiert. Sie haben Scheiben eingeschlagen und andere Einrichtungen zerstört.

Der Eigentümer dieser Anstalt (alles in mir weigert sich, das Wort Universität in den Mund zu nehmen) rief die Bereitschaftspolizei. Der Aufstand wurde niedergeschlagen.

Viele der Studenten – sollte die Bezeichnung ‘Student’ Neugier und Lernwillen suggerieren, so sind die meisten der Jugendlichen hier keine Studenten – tun mir manchmal auch leid. Einige sagen ganz offen, dies sei die Hölle hier.

Chris hat einmal in seiner Klasse eine anonyme Umfrage gemacht: von vierzig Schülern sagten gerade einmal drei, ihnen gefiele es hier.

Ob ich auch hierhergekommen sei, weil sie mich reingelegt hätten? fragt mich eine Schülerin. Ja, antworte ich, doch ich sei auch selber blöd genug gewesen, um darauf reinzufallen. Ich hätte eben, aus Eitelkeit, gerne an einer Universität Kommunikation unterrichtet und deshalb, als die Zusage gekommen sei, alle Warnlichter ignoriert, weil ich sie habe ignorieren wollen.

Die Schülerin lacht und sagt, sie fühlten sich alle hereingelegt. Sie hätten alle gedacht, sie kämen an eine Universität, nicht in eine Art Erziehungsanstalt.

George hat genug, er will weg. Er ist bereits seit zwei Jahren hier (es ist rar, dass jemand seinen Jahresvertrag verlängert), bis vor kurzem hat es ihm gefallen. Doch dann sind plötzlich Angestellte des Academic Affairs’ Office in seinem Unterricht aufgetaucht und haben die Anwesenheitslisten überprüft. Aus einer Laune raus, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, wie George meint.

Natürlich irrt er sich, hier tut niemand was aus einer Laune raus, hier hat jeder Vorgang System. Er verstehe eben nicht, hätten ihm seine Studenten gesagt, erzählt George. Sie hätten recht, er verstehe in der Tat nicht. Und was überhaupt?

Er muss irgendeine dieser unsichtbaren Grenzen überschritten haben, jetzt muss er dafür zahlen, wird er schikaniert. Man munkelt, er treibe es mit Studenten. Vielleicht hat sich einer von ihnen beschwert.

Bei Stuart ist an der Wand über dem Schreibtisch der Schulkalender festgemacht, er hat darauf die Tage durchgestrichen, die er bereits hier ist. Ich mache dasselbe auf meinem Kalender. Diese Praxis kenne ich sonst nur aus der Zeit als ich Schüler war und aus Filmen über das Leben im Gefängnis.

Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, mich ganz gut im Griff zu haben. Doch als ich vorgestern Yonalkis in Havanna anrief, habe ich ganz unvermutet – ich hatte mir doch so vorgenommen, mich zusammen zu nehmen – von Gefängnis, und Albtraum, und überall sei Polizei, gesprochen und dabei brach mir fast die Stimme. Ich hab’s zuerst gar nicht gemerkt, habe nur bemerkt, dass ich wild drauflos redete, bis Yonalkis sagte, ich hör’s an deiner Stimme. Und dann fügte sie noch hinzu, sie habe immer ein schlechtes Gefühl gehabt, habe mir das auch damals, in Bellinzona noch, gesagt. Ich erwidere, ja, ja, doch ich erinnere mich nicht, nur, dass sie jetzt schon zum zweiten Mal darauf hinweist und ich mir vornehme, in Zukunft mehr auf meine Frau zu hören..

Jeweils am Samstag fahre ich mit Mister Tu, einem chinesischen Englischlehrer, auf dem Motorrrad durch die Gegend. Wir fahren jedes Mal woanders hin. Einige der Orte, die wir besuchen, kennt auch Mister Tu, der aus der Gegend stammt, nicht. Wir fühlen uns in der Zeit zurückversetzt und staunen ob der manchmal ganz eigenartigen Architektur (ich erinnere speziell einen Ort, in dem ganz viele, ganz schlanke und hohe Gebäude zu sehen waren, obwohl da eigentlich viel Platz war) und den zum Teil sehr primitiven Verhältnissen. Doch auch die Dorfbewohner staunen; die Kinder rennen heran, um den Fremdling zu sehen.

Wir reden viel auf diesen mehrstündigen Fahrten, die uns bis zu vierzig, fünfzig Kilometer weit in die Berge und Hügel der Umgebung führen. Jetzt, wo das Ende meines Aufenthaltes naht, will Mister Tu wissen, was mir zuallererst durch den Kopf gehe, wenn ich an China denke und gibt sich gleich selber die Antwort. Das Lügen und Betrügen? Ich will höflich sein, will es aber auch nicht, denn mir ist die Energie, mich dauernd zu verstellen und nett sein zu müssen, abhanden gekommen. Natürlich, fange ich an, werde in allen Kulturen gelogen und betrogen, doch das Ausmass hier sei mir neu gewesen. Doch das alles überlagernde Gefühl sei die fast vollkommene Absenz von Spass und Freude, sei dieser ständige Kampf und Krampf, diese Verbissenheit mit der, zum Beispiel im Verkehr, um jeden Millimeter gekämpft werde.

Selbstverständlich sage ich dann auch noch ein paar nette Sachen, denn dass es in diesem Lande Bewundernswertes gibt, versteht sich von selbst. Die zum Bersten vollbepackten Lastwagen und Motorräder, zum Beispiel, die einen Sinn für Ausgewogenheit und Balance verraten, der einen staunen lässt.

Doch ich mag nicht ausgewogen sein.

Ich habe genug davon, dem Regime der Heuchelei zu gehorchen. Genug davon, keine Gefühle zu zeigen. Genug davon, freudlos dahin zu leben und darauf zu warten, dass endlich Schulschluss ist.

In den letzten Schulwochen geben sich die Schüler, die während des ganzen Semesters gelangweilt, aufsässig und störrisch gewesen sind, dermassen freundlich, nett und zuvorkommend, dass schon fast beleidigend offensichtlich ist, dass sie auf Anweisung von oben handeln. Die Schlussprüfungen finden bald statt und ich soll milde gestimmt werden. Auch steht meine Abreise kurz bevor und da sollen allfällige Wogen zuvor noch geglättet werden.

Ich bin schon zu lange hier, als dass ich darauf noch hereinfallen würde. Doch ich habe auch zu viel Angst, um das Spiel nicht mitzuspielen.


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