Sunday, 23 November 2025

Moskauer Erinnerungen

Dass unsere Zeit auch dadurch gekennzeichnet ist, dass wir in Informationen ersaufen, ist zwar ein Gemeinplatz, doch staune ich immer mal wieder, wovon ich überhaupt nicht Kenntnis genommen habe. Etwa davon, dass Memorial International, eine russische Menschenrechtsorganisation, im Dezember 2022 den Friedensnobelpreis erhalten hat (sie war damals bereits liquidiert worden). Irina Scherbakowa gehörte zu den 28 Board Members. 

"Seit dem 24. Februar 2022, als der grosse Krieg begann und ich Russland verlassen musste, habe ich mich oft gefragt: Waren wir naiv, daran zu glauben? Hätten wir als Historiker nicht erkennen müssen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man nur vorübergehend Lehren aus der Vergangenheit zieht, wenn sie nicht fest verankert sind, sondern nur allzu leicht revidiert werden können, zugunsten eines revisionistischen Imperialismus, eines neu erstarkten Nationalismus?"

Die Vorstellung, dass wir aus der Geschichte lernen können, ist mir im Laufe meines Lebens fremd geworden. Heutzutage halte ich es mit Hegel, der da meinte: "Das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass wir nichts aus der Geschichte lernen." Dass das Historiker anders sehen (Irina Scherbakowa ist Historikerin), versteht sich. 

"Wenn ich heute daran denke, mit welchen Hoffnungen Memorial 1989 gestartet war, welche Hoffnungen in Ost und West zu dieser Zeit gehegt haben, frage ich mich immer wieder: Wie konnte es bloss dazu kommen, dass aus diesen grossen Hoffnungen verlorene Illusionen wurden?" 

In den 1990er-Jahren gab es nicht nur die Perestroika, sondern auch Flüchtlinge sowie Kriminelle, die aus den kaukasischen Republiken nach Moskau kamen, sich dort je nach Zugehörigkeit zu Banden zusammenschlossen und "die verschiedene Lebensbereiche unter ihre Kontrolle brachten: Die einen nahmen sich der Märkte an, die anderen der Banken, die Dritten der Hotelbranche." Dann gab es auch noch die, die Wohnungen plünderten; auch Irina Scherbakowas Familie sollte Opfer der alltäglichen Gewalt werden.

Eindrücklich schildert die Autorin, wie die Legalisierung der Privatwirtschaft, die organisierte Kriminalität zum Erblühen brachte. Die Miliz wird nicht mehr zu Hilfe gerufen, vielmehr meidet man sie so gut man kann. Immer wieder kommt die Gewalt zur Sprache. Bekanntlich wird diese auch in Filmen über amerikanische Gangstersagen verherrlicht. "Der grosse Unterschied besteht darin, dass der Kodex und die Moralvorstellungen der 'Diebe im Gesetz' in Russland nach und nach zur Normalität wurden." Nur eben: Ähnliches ist mittlerweile auch in den USA zu beobachten.

Und auch dies hat mich an die USA erinnert, obwohl die Rede von der sowjetischen Vergangenheit ist (und es natürlich grosse Unterschiede gegeben hat; leere Regale und kilometerlange Schlangen gab es meines Wissens in den USA nicht, die rosarote Brille hingegen schon): "In meiner Vorstellung dachte ich, dieser Zeit könne wohl niemand nachtrauern, allein schon weil sich alle noch lebhaft an die leeren Regale, die kilometerlangen Schlangen und die desaströse Wirtschaftslage erinnern konnten. Tatsächlich aber begannen viele bereits ab Mitte der Neunziger, wenn nicht die Stalinzeit, so doch zumindest die Ära Breschnew durch die rosarote Brille zu betrachten ...". Daraus könnte man schliessen, dass der Mensch halt eben blöd bzw. ignorant ist. Die zweite Wahl von D.T. zum amerikanischen Präsidenten unterstreicht das genauso; das Chaos seiner ersten Amtszeit hatte die meisten Amerikaner offenbar nichts gelehrt.

Und dann, Irina Scherbakowa traute ihren Augen nicht, kehrten die Lenin-Statuen zurück. Auch ich selber traue meinen Augen ob des Geschehens auf dem Planeten Erde häufig nicht, doch gleichzeitig wundere ich mich auch, wie oft viele "Studierte" (zu denen ich selber gehöre) in den letzten Jahren mit ihren Einschätzungen danebenlagen. Beileibe nicht alle; gut informierte, nüchtern denkende Beobachter hatte die Invasion der Ukraine nicht überrascht.

Der Schlüssel würde noch passen ist die Autobiografie der 1949 in Moskau geborenen Irina Scherbakowa, die damit auch eine russische/sowjetische Zeit schildert, die einem im Westen aufgewachsenen Menschen ferner und fremder nicht sein könnte. Das ist einer der Gründe, weshalb die Lektüre lohnt; ein anderer ist die reflektierte Auseinandersetzung der Autorin mit dieser Zeit. 

Am Rande: Zu meinen liebsten Schilderungen gehört der erste Flug der damals 18Jährigen in einer Iljuschin-14 von Moskau auf die Krim. "Ich fand den dreistündigen Flug wahnsinnig aufregend, vor allem wegen der starken Turbulenzen. Jedes Luftloch löste eine Begeisterung bei mir aus, die meine Mutter nicht teilte. Sie krallte sich kreidebleich an den Armlehnen fest ....".. 

Nicht nur von der Familie berichtet die Autorin, sondern auch von Freunden, und speziell von Tanja, "von Natur aus Sozialrevolutionärin, eine echte Demokratin, viel mehr als ich." Sie litt stark unter der sozialen Ungleichheit und der ungerechten Behandlung. "Ich weiss nicht, wie ich die Schwermut beschreiben soll, die Tanja Anfang der 2000er-Jahre in Wellen einholte, besonders in ihrem letzten Jahr." Diese Hommage an ihre Freundin, die Dichterin, hat mich am stärksten berührt in diesen gut geschriebenen Erinnerungen, nicht zuletzt, weil sie einem bewusst macht, wie stumpf die meisten Menschen sein müssen, dass sie die ganze Primitivität, ja, die Barbarei, die in den letzten Jahren ungefiltert an die Oberfläche gespült worden ist, ertragen können.

Irina Scherbakowa
Der Schlüssel würde noch passen
Moskauer Erinnerungen
Droemer, München 2025

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