Wednesday, 1 January 2020

Dao De Jing

Als Gymnasiast gehörte der Besitz dieses Werkes zu denen, die mich auszeichneten. Jedenfalls in meiner Vorstellung. Ob ich es gelesen beziehungsweise verstanden habe, weiss ich nicht mehr, doch ich erinnere mich, dass meine Ausgabe "Tao Te King" hiess und von Laotse verfasst worden war. Offenbar gibt es ganz unterschiedliche Ausgaben dieses Textes und, dies entnehme ich dem Vorwort von "Dao De Jing", erhebt jede, auch die vorliegende, "den Anspruch, eine singuläre inhaltliche Neuinterpretation des jahrtausendealten Werkes zu sein und es unserem heutigen Verständnis auf bisher noch nicht dagewesene Art und Weise aufzuschlüsseln."

Übersetzer Michael Hammes, der den Text auch "umfassend erläutert", macht im Vorwort klar, wie aussergewöhnlich befähigt er ist, die hier vorliegende Neuinterpretation vorzunehmen. Soviel Selbstherrlichkeit ist schwer erträglich und so recht eigentlich mit dem Geist dieses Werkes nicht vereinbar. So meint er etwa. dass "solange die Verstrickung in eigene und fremde kulturelle Kontexte noch nicht aufgelöst ist", man dem Dao De Jing nicht auf den Grund dringen kann (er selber glaubt offenbar, diese Auflösung bewerkstelligt zu haben). Weise Menschen sind bescheidener.

Doch zum Positiven: Was der Mann vorlegt, ist mir nicht nur sympathisch, sondern halte ich für hilfreich, notwendig und wahr. "Jahrtausende bevor Technologie zum gesellschaftlichen Allheilmittel und Rationalismus zur Ersatzreligion des sich aufgeklärt wähnenden modernen Menschen wurde, formulierte das DAO DE JING eine radikale Gegenposition."

Die Sinnsprüche des Dao De Jing gründen auf Prinzipien, die immer und überall gelten. "Das Reich zu regieren, zügelloses Verhalten zu disziplinieren und den menschlichen Leib zu heilen, alles folgt identischen Prinzipien." Und: "Mit dem Konzept des DAO und der Kraft der Tugend kann der Mensch wieder lernen, sich selbst ins Gleichgewicht zu bringen und zum Wohl der ganzen Welt beizutragen. So könnte eine Untertitel zum DAO DE JING lauten: Über die Freilegung des wahren Selbst."

Dieses wahre Selbst entzieht sich unseren gewohnten Denkkategorien, kann nicht in Worte gefasst, sondern nur erfahren werden. Voraussetzung dieses Erfahrens ist Absichtslosigkeit sowie die Bereitschaft, "Zeuge des Wirkens der höchsten ordnenden Instanz zu werden." Es geht ums Zulassen und Loslösen können

Dieser exquisit gestaltete Band enthält einundachtzig Eröffnungen, die jeweils von einer Erläuterung und einer Auslegung sowie einer praktischen Folgerung ergänzt werden. Die eleganten und unprätentiösen Ausführungen überzeugen nicht zuletzt, weil sie Grundlegendes in einfache Worte zu fassen wissen – eine seltene Kunst. Ein Beispiel: "Daher: Wenn du keinen Widerstand bietest, vermagst du alles zu durchdringen. Widerstand entsteht durch Anhaftung an Absichten und Argumente."

Die am Schluss dieses Bandes aufgeführten Kernbotschaften machen unter anderem klar, dass der hier skizzierte Weg nicht auf dem heutzutage dominierenden Konkurrenzdenken, sondern der Selbstmeisterung gründet. "Selbstmeisterung genügt, um die Welt zu meistern." 

Laut Herausgeber Michael Hammes gehört dieser "Leitfaden der Hygiene für Geist und Seele" sowohl "in die Hand aufgeschlossener Angehöriger der Heilberufe wie unter das Kopfkissen geplagter Patienten, die mehr als den Zauber von  Pille, Skalpell und Spritze erfahren wollen." Treffender kann man es kaum sagen. 

Zwei meiner Lieblingssätze will ich doch noch anführen: 
"Hüte dich vor allen Arten der Selbsttäuschung. Das ist die grosse Gesundheit, die auch andere vor Ansteckung mit Krankheit bewahrt."
"Bedenke  die grosse Ordnung kannst du nicht erzwingen, aber wenn du das beste Beispiel für sie abgibst, können andere sich daran ausrichten."

Lao Zi
Dao De Jing
Manesse, München 2019

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