Mit "Alles ist nur einmal" ist der Einstieg in dieses Buch überschrieben – ich fühle mich sofort gepackt von der einfühlsamen und berührenden Schilderung des Lebensendes von Matthyas Jenny (verfasst von seiner Tochter), den René Schweizer (laut Wikipedia Schriftsteller, Aktionskünstler und Selbstdarsteller) zu den Menschen zählte, die "verzweifeln Tag für Tag aufs Neue, ihr ganzes Leben lang. Sie sind gezeichnet, auserwählt und immer an der Grenze der absoluten Wahrnehmung."
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Die Nachtmaschine zu lesen, bedeutet, mich auf eine Zeitreise zu begeben. So war mir etwa der Besitz von "Gasolin 23", der von Carl Weissner, Jürgen Ploog und Jörg Fauser gegründeten Alternativzeitschrift, Ausweis von Verbundenheit mit einer Szene, die definitiv anders war. Für Jürgen Ploog war sie "eine vitale Alternative zur ungesunden Sterilität dessen, was hier so an handelsüblicher Literatur produziert und gefördert wurde." Darüber hinaus stosse ich auf das von Matthyas Jenny initiierte Poesietelefon, von dem ich zwar gehört hatte, mit dem ich jedoch nicht vertraut war, und erfahre nun, was es damit auf sich hatte. "Ein Lastwagenfahrer hält an einer Telefonkabine an, steigt aus und wählt die Nummer des Poesietelefons. Mitten im alltäglichen Leben sollte uns das Gedicht einen Moment aus dem Trott herausholen, uns für die Dauer eines Gedichts in die Welt der Assoziationen und der Sprachkunst entführen." Wie schön, wie aufmerksam, wie wunderbar!
"Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben" heisst der Untertitel (dass ein Leben literarisch sein kann, übersteigt meine Vorstellungskraft) dieses von Zoë und Caspar Jenny verfassten Werkes, das sich nicht nur gut liest, sondern vieles bestens nachvollziehbar aufschlüsselt, was den Verleger der "Nachtmaschine" ausmachte. Eingespannt in die Lügengeschichten seiner Eltern sagte er sich vom bürgerlichen Leben los. "Er war ein Kind seiner Zeit, das Leben war Abenteuer, Risiko, Wagnis." Dass er in den letzten Jahren vor seinem Tod am 11. Oktober 2021 erklärte, "dass er immer eine 'normale' Familie hätte haben wollen", macht nicht zuletzt deutlich, dass nicht unsere bewussten Vorstellungen lebensleitend sind, sondern das, was in uns angelegt ist und heraus will.
Matthyas Jenny war ein Büchermensch. Verleger, Schriftsteller, Buchhändler; alles, was irgendwie mit Büchern zu tun hatte, war ihm vertraut, von der Auslieferung zur Buchmesseorganisation. Ein neugieriger Mann, mit einer menschenfreundlichen, humanistischen Lebenshaltung. "Karrieristisches Kalkül war ihm fremd, und damit provozierte er jene, die auf Berechnung und Egoismus setzen."
Der Verlag Nachtmaschine war ein Undergroundverlag, Ausdruck der Gegenkultur. Und diese stand für die Unangepassten, das intensive Leben. "Die Welt gehört den Wahnsinnigen", fasste Matthyas Jenny diesen Geist treffend zusammen. Sein Sohn führt aus: "Der Underground schreibt gegen etwas an. Gegen die Monotonie, die Langeweile, die Routine, das Festgefügte, das erstarrte Leben, das sich behäbig und wichtigtuerisch reproduziert. Das Aufbrechen dieser Lebensroutine, das Infragestellen, das ist das Experiment des Beats, das ein Scheitern so selbstverständlich in sich einschliesst wie den Sieg, den Sieg eines gelebten Lebens, ohne Wenn und Aber." Genau so isches!
Eine Biografie ist natürlich immer auch ein Zeitdokument und dieses liest sich besonders spannend, wenn man diese Zeit grössten Teils selber erlebt hat sowie wesentliche Vorlieben des Porträtierten teilt. Ständig auf vertraute Namen zu stossen, die einer längst verschwundenen Welt anzugehören scheinen (auch wenn die Betreffenden noch leben), lässt einen gelegentlich wehmütig werden. Mir geht es so, wenn ich etwa von mir persönlich nicht bekannten und doch irgendwie vertrauten Menschen lese, wie Benno Käsmayr vom Maro Verlag (wegen meiner ersten Bukowski Bücher) oder von Hansjörg Schneider (wegen seines Buches über seine verstorbene Frau).
Zoë beschreibt den Vater aus ihrer Sicht, Caspar aus seiner; beide zitieren viel aus des Vaters veröffentlichten und unveröffentlichten Texten. Matthyas Jenny war nicht nur ein Träumer und Freigeist sowie ein Geschöpf seiner Zeit, in der das Reisen und die Ungebundenheit für viele zentral war (für die meisten allerdings nicht), sondern in jungen Jahren auch alkoholsüchtig, also selbstzerstörerisch. "Er kannte den Rausch, er kannte den Alkohol, er kannte die Drogen. In seinen letzten vierzig Jahren blieb es aber trocken, rührte nicht ein einziges Glas mehr an."
Auch die umfassendste Biografie müsse ein Fragment bleiben, schreibt die Tochter. Zweifellos. Wobei die Biografie, die Kinder über ihren Vater schreiben, eine sehr besondere ist, was wesentlich darin begründet ist, dass die Kinderperspektive einzigartig intensiv ist. So ist etwa Zoës Schilderung der Überquerung des Julierpasses im Winter derart gut gelungen, dass man sich als Leser zusammen mit Vater und Tochter ängstigt.
Für mich das Beeindruckendste (und auch Erstaunlichste) an diesem Buch ist, dass Zoë und Caspar Jenny, geboren 1974 respektive 1971, auch ein überzeugendes Porträt einer Zeit geliefert haben, für die sie grösstenteils zu jung waren, um sie wirklich wahrzunehmen. Casper formuliert es einmal so: "Städte, Landschaften Wohnungen, Strassen repräsentierten die Topografie seiner Literatur. Das Interessante liegt in der Welt, nicht in einem selbst. Das ist das Amerikanische an dieser Prosa, das Setting, die Szenerie, die Stimmung, die ausdrückt, was in den Menschen vor sich geht." Zoë schreibt: "Schreiben war bei ihm immer auch Schreiben gegen den Schmerz, der Versuch mit Worten Ordnung zu schaffen, immer fragend, nie wissend. Er hatte sich bis zum Schluss einen staunenden, unverstellten Blick auf die Welt bewahrt."
Fazit: Berührende Erinnerungen, die eine Lebenshaltung ehren, die selten ist.
Zoë Jenny / Caspar Jenny
Die Nachtmaschine
Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben
Zytglogge, Basel 2024