Sunday, 15 December 2024

Die Nachtmaschine

Mit "Alles ist nur einmal" ist der Einstieg in dieses Buch überschrieben – ich fühle mich sofort gepackt von der einfühlsamen und berührenden Schilderung des Lebensendes von Matthyas Jenny (verfasst von seiner Tochter), den René Schweizer (laut Wikipedia Schriftsteller, Aktionskünstler und Selbstdarsteller) zu den Menschen zählte, die "verzweifeln Tag für Tag aufs Neue, ihr ganzes Leben lang. Sie sind gezeichnet, auserwählt und immer an der Grenze der absoluten Wahrnehmung."
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Die Nachtmaschine zu lesen, bedeutet, mich auf eine Zeitreise zu begeben. So war mir etwa der Besitz von "Gasolin 23", der von Carl Weissner, Jürgen Ploog und Jörg Fauser gegründeten Alternativzeitschrift, Ausweis von Verbundenheit mit einer Szene, die definitiv anders war. Für Jürgen Ploog war sie "eine vitale Alternative zur ungesunden Sterilität dessen, was hier so an handelsüblicher Literatur produziert und gefördert wurde." Darüber hinaus stosse ich auf das von Matthyas Jenny initiierte Poesietelefon, von dem ich zwar gehört hatte, mit dem ich jedoch nicht vertraut war, und erfahre nun, was es damit auf sich hatte. "Ein Lastwagenfahrer hält an einer Telefonkabine an, steigt aus und wählt die Nummer des Poesietelefons. Mitten im alltäglichen Leben sollte uns das Gedicht einen Moment aus dem Trott herausholen, uns für die Dauer eines Gedichts in die Welt der Assoziationen und der Sprachkunst entführen." Wie schön, wie aufmerksam, wie wunderbar!

"Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben" heisst der Untertitel (dass ein Leben literarisch sein kann, übersteigt meine Vorstellungskraft) dieses von Zoë und Caspar Jenny verfassten Werkes, das sich nicht nur gut liest, sondern vieles bestens nachvollziehbar aufschlüsselt, was den Verleger der "Nachtmaschine" ausmachte. Eingespannt in die Lügengeschichten seiner Eltern sagte er sich vom bürgerlichen Leben los. "Er war ein Kind seiner Zeit, das Leben war Abenteuer, Risiko, Wagnis." Dass er in den letzten Jahren vor seinem Tod am 11. Oktober 2021 erklärte, "dass er immer eine 'normale' Familie hätte haben wollen", macht nicht zuletzt deutlich, dass nicht unsere bewussten Vorstellungen lebensleitend sind, sondern das, was in uns angelegt ist und heraus will.

Matthyas Jenny war ein Büchermensch. Verleger, Schriftsteller, Buchhändler; alles, was irgendwie mit Büchern zu tun hatte, war ihm vertraut, von der Auslieferung zur Buchmesseorganisation. Ein neugieriger Mann, mit einer menschenfreundlichen, humanistischen Lebenshaltung. "Karrieristisches Kalkül war ihm fremd, und damit provozierte er jene, die auf Berechnung und Egoismus setzen."

Der Verlag Nachtmaschine war ein Undergroundverlag, Ausdruck der Gegenkultur. Und diese stand für die Unangepassten, das intensive Leben. "Die Welt gehört den Wahnsinnigen", fasste Matthyas Jenny diesen Geist treffend zusammen. Sein Sohn führt aus: "Der Underground schreibt gegen etwas an. Gegen die Monotonie, die Langeweile, die Routine, das Festgefügte, das erstarrte Leben, das sich behäbig und wichtigtuerisch reproduziert. Das Aufbrechen dieser Lebensroutine, das Infragestellen, das ist das Experiment des Beats, das ein Scheitern so selbstverständlich in sich einschliesst wie den Sieg, den Sieg eines gelebten Lebens, ohne Wenn und Aber." Genau so isches!

Eine Biografie ist natürlich immer auch ein Zeitdokument und dieses liest sich besonders spannend, wenn man diese Zeit grössten Teils selber erlebt hat sowie wesentliche Vorlieben des Porträtierten teilt. Ständig auf vertraute Namen zu stossen, die einer längst verschwundenen Welt anzugehören scheinen (auch wenn die Betreffenden noch leben), lässt einen gelegentlich wehmütig werden. Mir geht es so, wenn ich etwa von mir persönlich nicht bekannten und doch irgendwie vertrauten Menschen lese, wie Benno Käsmayr vom Maro Verlag (wegen meiner ersten Bukowski Bücher) oder von Hansjörg Schneider (wegen seines Buches über seine verstorbene Frau).

Zoë beschreibt den Vater aus ihrer Sicht, Caspar aus seiner; beide zitieren viel aus des Vaters veröffentlichten und unveröffentlichten Texten. Matthyas Jenny war nicht nur ein Träumer und Freigeist sowie ein Geschöpf seiner Zeit, in der das Reisen und die Ungebundenheit für viele zentral war (für die meisten allerdings nicht), sondern in jungen Jahren auch alkoholsüchtig, also selbstzerstörerisch. "Er kannte den Rausch, er kannte den Alkohol, er kannte die Drogen. In seinen letzten vierzig Jahren blieb es aber trocken, rührte nicht ein einziges Glas mehr an."

Auch die umfassendste Biografie müsse ein Fragment bleiben, schreibt die Tochter. Zweifellos. Wobei die Biografie, die Kinder über ihren Vater schreiben, eine sehr besondere ist, was wesentlich darin begründet ist, dass die Kinderperspektive einzigartig intensiv ist. So ist etwa Zoës Schilderung der Überquerung des Julierpasses im Winter derart gut gelungen, dass man sich als Leser zusammen mit Vater und Tochter ängstigt.

Für mich das Beeindruckendste (und auch Erstaunlichste) an diesem Buch ist, dass Zoë und Caspar Jenny, geboren 1974 respektive 1971, auch ein überzeugendes Porträt einer Zeit geliefert haben, für die sie grösstenteils zu jung waren, um sie wirklich wahrzunehmen. Casper formuliert es einmal so: "Städte, Landschaften Wohnungen, Strassen repräsentierten die Topografie seiner Literatur. Das Interessante liegt in der Welt, nicht in einem selbst. Das ist das Amerikanische an dieser Prosa, das Setting, die Szenerie, die Stimmung, die ausdrückt, was in den Menschen vor sich geht." Zoë schreibt: "Schreiben war bei ihm immer auch Schreiben gegen den Schmerz, der Versuch mit Worten Ordnung zu schaffen, immer fragend, nie wissend. Er hatte sich bis zum Schluss einen staunenden, unverstellten Blick auf die Welt bewahrt."

Fazit: Berührende Erinnerungen, die eine Lebenshaltung ehren, die selten ist.

Zoë Jenny / Caspar Jenny
Die Nachtmaschine
Matthyas Jenny: Ein literarisches Leben
Zytglogge, Basel 2024

Wednesday, 11 December 2024

Wer stört, muss weg!

Meine erste Reaktion auf diesen Titel war: Das ist doch klar! Schliesslich will jedes System möglichst reibungslos funktionieren. Warum sollten Universitäten da anders sein? Sicher, sie definieren sich anders, behaupten, sie stünden für Meinungsfreiheit. Doch wer mit auch nur ein bisschen Lebenserfahrung glaubt eigentlich den Selbstdeklarationen, den Absichtserklärungen, der Propaganda? Man lese etwa, was Nestlé oder die CIA von sich behaupten.

Andererseits, und davon handelt Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus der Universität von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel, beide Universitätsprofessorinnen, ist eine Universität eben doch etwas anderes als ein Industrieunternehmen oder ein Geheimdienst, denn da wird Wissenschaft betrieben und das meint: Das Hervorbringen unangenehmer Wahrheiten ist ihre Aufgabe, die Werturteilfreiheit Pflicht. Die Realität sieht anders aus? Sowieso. Heute kommt die Meinung zuerst, die Ideologie macht sachliche Kontroversen unmöglich. So habe ich in Esther Bockwyts WOKE gelesen, dass das Bildungsministerium in Oregon, USA, den Lehrern ein Training in "Ethnomathematik" nahelegte. "Lehrer sollten im Unterricht darlegen, dass Mathematik dazu dient, kapitalistische, imperialistische und rassistische Ansichten zu unterstützen."

Als Heike Egner und Anke Uhlenwinkel begannen Daten zu sammeln (sie wollten untersuchen, ob es sich bei den Entlassungen von Hochschuldozenten um Einzelfälle handelte) gingen sie davon aus, "dass eine Entlassung selbstverständlich erst nach Abschluss adäquater Prüfverfahren erfolgt sein wird. Dem ist nicht so." Mich selber erstaunt das wenig, vielmehr fühlte ich mich an die Geschichte des Herausgebers des "Spectator" erinnert, der in Tony Blairs innerem Kreis Mäuschen spielen durfte, als es um die Entscheidung ging, ob Grossbritannien an der Seite der USA in den Irak einmarschieren sollte – weder wurden Expertenmeinungen eingeholt, noch wurde debattiert. Der Entscheid war längst gefallen, es ging nur darum, die Begründung nachzuliefern. 

Die Freiheit der Wissenschaft ist ein Grundrecht, also dauerhaft, beständig und jedem anderen Recht vorgeordnet. Mit anderen Worten: Die Wissenschaftsfreiheit ist verfassungsrechtlich garantiert. "Die Wissenschaft selbst ist keine demokratische Angelegenheit – die Wahrheit lässt sich eben gerade nicht durch Zustimmung einer Mehrheit finden, sondern stellt sich möglicherweise genau als das heraus, was von den Meisten als undenkbar empfunden würde."

Dass ihr Wissenschaftsverständnis "eine Idealisierung darstellt, eine Imagination, die sich auf diese Weise im eigenen Erleben nie hat realisieren können", wissen die beiden Autorinnen. Dass sie trotzdem darauf beharren, ehrt sie nicht nur, sondern gehört unterstützt, auch weil das Ringen um die Wahrheit zu den wesentlichsten Bemühungen der menschlichen Existenz gehören sollte. Zudem: So recht eigentlich verdanken wir der Wissenschaft jeden Fortschritt der Menschheitsgeschichte.

Die Untersuchungen von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel ergaben, dass die angegebenen Gründe für die Entfernung in der Person des Professors oder der Professorin liegen. Ein Beispiel: Liefert ein Student eine ungenügende Leistung, kommt es regelmässig zu Konflikten, da der Student den Fehler nicht bei sich sieht, sondern in der Böswilligkeit der Professorin. "Die Psychologie kennt dieses Muster als 'selbstwertdienliche Verzerrung': Erfolge schreibt man sich selbst zu, während Misserfolge an anderen oder an den Umständen liegen." Das weiss man allerdings auch ohne Psychologie.

"Pointiert formuliert, wird hier ein 'Recht auf Zertifikat' eingefordert." Diese Anspruchshaltung ist typisch für unsere Zeit; Rechte zu haben ist uns selbstverständlich, Pflichten eher weniger. Jedenfalls in der westlichen Welt. Meine Erfahrung in China war ganz anders, dort hat man nur Pflichten.

Ist es vielleicht eine Frage der Generationen? Darauf eine klare Antwort zu geben, wäre zwar unwissenschaftlich, doch vermutlich trotzdem wahr. Fest steht, dass die Generation Y (Geburtsjahrgänge ca. 1980 bis 1995) erwartet, bei ihrer Karriereorientierung unterstützt zu werden, "was gleichzeitig auch bedeutet, dass die Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln zurückgewiesen wird." Besser kann man das heutige Selbstverständnis vieler (und nicht nur dieser Generation) kaum charakterisieren.

Heike Egner und Anke Uhlenwinkel gehen noch auf viele andere Aspekte ein, die für mein Dafürhalten letztlich alle Indizien für ein grundsätzliches Phänomen liefern, das über die Wissenschaft hinausgeht und für die ganze Gesellschaft relevant ist. "Es scheint, als müssten wir Gesellschaft neu erfinden. Und dabei auch ganz grundsätzlich die Frage stellen, welche Wissenschaft wir wollen." Eine andere Variante wäre, den Menschen neu erfinden, indem wir uns auf Charakterbildung konzentrieren. Ob man da allerdings einen Konsens findet, ist heutzutage mehr als fraglich,

Heike Egner / Anke Uhlenwinkel
Wer stört, muss weg!
Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten
Westend, Neu-Isenburg 2024

Sunday, 8 December 2024

Amerika 1930

Dieses Buch handelt von dem fast sechsmonatigen Aufenthalt von Otto Scheid 1930 in den Vereinigten Staaten. Otto Scheid, 1901 in Maria Enzersdorf bei Wien geboren, studierte an der TU Berlin-Charlottenburg Metallurgie und zeigte sich so begabt, dass sein Professor ihn auf seine Amerika-Tournee mitnehmen wollte. Da der Professor zur Abfahrt aus Bremerhaven nicht erschien, trat Otto die Reise alleine an, allerdings ohne ein Wort Englisch zu können.

1930, das war die Zeit der great depression, wie die Weltwirtschaftskrise in Amerika genannt wird, die gekennzeichnet war durch eine gewaltige Arbeitslosigkeit. Otto Scheid schreibt kaum davon, er war selber auf Arbeitssuche und schildert diese sehr amüsant.

"Was die Zeit um 1930 so bedeutungsvoll macht, sowohl in Europa, in Amerika wie auch weltweit, sind die vielen Veränderungen durch den fortschreitenden Erfolg von technischen Erfindungen und die darauf folgenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Otto beschreibt in seinen Briefen genau diese dynamischen Spannungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft.", so Andreas Maleta im Vorwort.

Andreas Maleta war Korrespondent in Ägypten und Indien (für wen erfährt man nicht), lebte später in den USA und erhielt vor einigen Jahren die Briefe von Otto Scheid zur Ansicht. Diese Briefe bilden die Grundlage zu diesem Buch. Amerika 1930 ist jedoch weit mehr als eine Zusammenstellung dieser Briefe, denn Autor Maleta liefert nicht nur Kontext, sondern zeigt auch erhellende Übereinstimmungen von Scheids Eindrücken mit den Reiseberichten von Alexander Roda Roda, Egon Erwin Kisch und Vicki Baum.

Scheids Ankunft gestaltete sich katastrophal; ihm fehlte die nötige Kaution von US$500, von der er gar nicht wusste, dass er sie beizubringen hatte, und so landete er auf Ellis Island, wo die Ankömmlinge als Eindringlinge behandelt und ihnen klar gemacht wurde, dass die Amis die Grössten und Besten sind, und es ein Privileg ist, ins Land gelassen zu werden.

Es versteht sich: Wir alle gehen mit Erwartungen durch die Welt, bewussten und unbewussten. "Entgegen meiner Erwartung sind die Menschen hier recht unfreundlich und stellenweise auch ziemlich ungastlich. Alles geht hier nur um den Dollar, Dollar und wieder Dollar! Es ist ein sehr angestrengtes Leben, das die Leute hier führen." Als er später Kuba besucht, notiert er: "Eine recht kämpferische Bevölkerung, aber im persönlichen Kontakt von einer geradezu lächerlichen Höflichkeit, besonders auffallend, wenn man sich an amerikanische Sitten schon etwas gewöhnt hat."

Was ihm  auch gleich zu Beginn auffällt (es sind zumeist diese ersten Eindrücke, die besonders aufschlussreich sind): Dass niemand zu Fuss geht, dass niedrigste Arbeiten genau so geschätzt werden wie höhere, dass alles immer ganz schnell gehen muss. Doch er bemerkt auch: "Alles geht hier eilig, alles im D-Zug-Tempo und trotzdem haben die Leute hier immer zu allem Zeit. Ich glaube, die Eile ist mehr Mache und zur Gewohnheit geworden als tatsächliche Notwendigkeit."

Die für einen gebildeten Europäer eher ruppigen Umgangsformen der Amerikaner behagen ihm nicht. Am Kaugummikauen stösst er sich besonders. "Die allgemeine Volksnahrung ist der Kaugummi, dieser ist in der Subway besonders beliebt. Mit geschlossenem Mund murmelt jeder irgendwas Unverständliches vor sich hin oder schaut in seine Zeitung – auch die Frauen."

Vieles an Amerika ist Show, der wichtigste Export des Landes Hollywood Und so klaffen Vorstellung und Realität oft auseinander. "Die Freiheitsstatue ist anscheinend auch nur zum Anschauen von Frankreich geschenkt worden, den inneren Sinn haben die Amerikaner nicht kapiert."

Dass es damals schon Fastfood Restaurants gab, von Scheid als Schnellspeisehäuser bezeichnet, erstaunt mich. Ebenso, dass es schon damals amerikanische Sitte war, vermeintliche Belästigungen sofort bei der Polizei zu melden. "Es gibt hier viele Frauen, die von Erpressungen dieser Art leben." Verblüfft hat mich auch, dass die Columbia University in New York von einer Stiftung aus Banken finanziert wurde.

"Nun ja, in Amerika erzählt man bei allem immer, was es gekostet hat." Und so notiert er, was die Dinge kosten (in Klammern wird jeweils angegeben, wieviel das heute wäre), stellt ständig Vergleiche an, wie das natürlich alle tun, jedoch selten jemals so sympathisch und unprätentiös. In Cleveland notiert er: "Mein Häuschen ist umgeben von einem Garten, ich wohne da im 1. Stock, nicht mehr im zehnten, sehe sogar ins Grüne, wo Palmen wachsen und im Schatten schwarze Frauen Wäsche glätten. Das könnte auch in Afrika so sein, war zwar nie dort, jedenfalls ist es hier ebenso heiss."

Dieses reich bebilderte Amerika 1930 beleuchtet ganz viele Aspekte und geht dabei weit über ein historisches Dokument hinaus, denn vieles, was Otto Scheid einst wahrgenommen hat, gilt auch heute noch, wenn auch nicht nur in Amerika. "Das ganze Gesellschaftsleben trägt den Charakter hinterlistiger Verlogenheit: nach aussen hin feudal vornehm." Was im Übrigen ganz besonders für dieses Werk spricht, ist, dass der Autor sich herrlich unverblümt ausdrückt – zum Diplomaten hätte er wenig getaugt, dafür war er viel zu "normal". Man ist froh drum!

Andreas Maleta
Amerika 1930
ZEITENWENDE
Reise zur einer Weltmacht im Entstehen
Die Beobachtungen eines Wieners aus Berlin
in der Weltwirtschaftskrise
Ibera Verlag, Wien 2024

Wednesday, 4 December 2024

"Sagen, was ist"

Wir leben in verwirrenden Zeiten. Das sagt jeder (Frauen, Männer und Non-Binäre). Und jeder meint damit etwas anderes. In meinem Falle heisst das: Die Welt meiner Jugend, in der für mich Begriffe wie Demokratie, Bildung, Rechtsstaat, Journalismus als sogenannt vierte Gewalt, selbstverständlich waren, gibt es für mich nicht mehr. Ich bin mittlerweile alt genug (Jahrgang 1953), um Schopenhauers Einsicht bestens nachvollziehen zu können: "Erst im späten Alter erlangt der Mensch ganz eigentlich das horazische nil admirari, d.h. die unmittelbare, aufrichtige und feste Überzeugung von der Eitelkeit aller Dinge und der Hohlheit aller Herrlichkeiten dieser Welt: die Chimären sind verschwunden."

Die Wahrnehmung der Autorinnen und Autoren dieses Bandes ist eine andere. Sie behaupten – gescheit, nachdenklich, differenziert und eloquent – die Relevanz der Medien als kritische Instanz. "Es geht also um Kritik. Und wo Kritik ist, da ist Aufklärung. Wo Aufklärung ist, ist Einsicht. Wo Einsicht ist, kann an der Beseitigung von Missständen gearbeitet werden. So gesehen, ist 'sagen, was ist', eine nützliche, ja notwendige Voraussetzung für die Verbesserung der herrschenden Zustände. Oder etwa nicht?" Soweit Franziska Augstein. Dieses traditionelle Journalismus-Verständnis, so kommt es mir vor, hat sich überlebt, taugt nicht mehr. Schliesslich haben die Medien in Sachen Trump hervorragende Aufklärung geleistet, der Mehrheit der amerikanischen Wähler (so es denn mit rechten Dingen zugegangen sein sollte) war ihr Wissen über den Mann jedoch egal. Mit anderen Worten: Sachliche Aufklärung macht in der Politik kaum einen Unterschied; die Leute wählen nicht aufgrund von Informationen, sondern von Emotionen – und die haben sich bei den meisten, nicht nur den Amerikanern, seit dem 12ten Altersjahr kaum weiterentwickelt.

Solange wir uns an einem Menschenbild orientieren, das in keinster Weise der Wirklichkeit entspricht (wir sind keine von der Vernunft geleitete Wesen, sind mit den Möglichkeiten der modernen Welt heillos überfordert), wäre das kritische Nachfragen (ein Kernelement des Journalismus) in der Tat eine gute Sache, doch der Mensch ist triebgesteuert und emotional und, falls mit Verstand ausgestattet, benutzt er diesen zur Rechtfertigung seiner impulsiven Entscheide. Und obwohl dieser Band wirklich guten Journalismus liefert, inklusive Quellenangaben, fundamentale Fragen stellt er nicht. Damit meine ich die ständigen Hinweise darauf, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, ohne sich auch nur einmal zu fragen, ob das eigentlich stimmt. Im Kapitalismus regiere nicht das Volk, sondern das Geld, meinte einst Horst Herold, ehemals Chef des BKA.

Nichtsdestotrotz: An der kritischen Auseinandersetzung fehlt es nicht. So weist etwa Armin Wolf auf Jay Rosens "Both-Sidesism" (2020) hin, worauf Sanitsuda Ekachai von der "Bangkok Post" allerdings bereits 2008 aufmerksam gemacht hat. Folgenlos, so weit ich weiss. Auch wird man auf Konzepte wie "Constructive Journalism" und "Friedensjournalismus" aufmerksam gemacht. So ziemlich alles, so mein Eindruck, das heutzutage öffentlich diskutiert wird, kommt in diesem Band vor. Zum Schönsten gehört für mich, was Anton Troianovski 2012 im Süden der Vereinigten Staaten erlebt hat ... doch lesen Sie selbst, es ist eine ganz wunderbare Geschichte.

Gelegentlich wähnte ich mich bei der Lektüre in den Schulunterricht zurückversetzt. Etwa, wenn ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass ich wissen müsse, was in den sozialen Medien so abgeht (Nicole Diekmann), da sonst Recherche nicht möglich sei. Keine Frage, sie hat Recht, sofern man davon ausgeht, es dürfe möglichst nichts ausgelassen werden. Also auch die Frage, was 'in depth' und was 'investigativ' sei (Elisa Simantke). Nun ja, zu unterscheiden, was wesentlich und was unwesentlich ist, war schon immer schwierig, und wird zumeist recht willkürlich beantwortet. Diesbezüglich ist der Mensch verblüffend stabil.

"Sagen, was ist" ist auch ein Buch über das journalistische Selbstverständnis, das sich auf das Grundrecht der Pressefreiheit beruft. Georg Mascolo schreibt dazu: "Denn was im Grundgesetz so grossartig aufgeschrieben und garantiert worden war, das war leider noch lange nicht in den Köpfen so vieler angekommen." Mir scheint allerdings eher, dass es höchstens in den Köpfen, doch leider nicht in den Herzen angekommen ist, also gar nicht.

Bei der Fotografie, mit der ich mich viele Jahre intensiv auseinandergesetzt habe, ist alles – wie im Journalismus – schon da, nur der Rahmen fehlt: Was nehme ich rein, was lasse ich raus? "Augsteins Credo ernst zu nehmen, bedeutet übrigens auch, nicht zu sagen, was nicht der Rede wert ist. Also auf Meldungen zu rein destruktiven, sinnlosen, gedankenlosen Beiträgen zu verzichten." (Melanie Amann).

"Sagen, was ist" wird in diesem Band ganz unterschiedlich interpretiert. Was Augstein wirklich gemeint hat; Der Satz stammt gar nicht von ihm; Was der Satz heute bedeutet. Das Übliche also. Meine eigene Sichtweise geht so: Man muss neugierig sein, hinschauen, wirken und sich setzen lassen, was man registriert hat. Auch seinen Verstand einzusetzen gehört zum Feststellen von dem, was ist. Kontext hingegen nur beschränkt, denn der ist immer konstruiert. Das sehen einige in diesem Band anders, sie finden, das reiche heute nicht mehr. So interessant und anregend sich die Ausführungen von Wolfgang Blau, Christian Stöcker und Christina Elmar auch lesen, nur wer sich aufs nüchterne Hinsehen und Benennen dessen, was sich ihm oder ihr offenbart, zu beschränken weiss, versteht, worum es im Leben geht – um das, was ist.

"Sagen, was ist" ist spannend zu lesen und sehr informativ – eine exzellente Auseinandersetzung darüber, was unter seriösem Journalismus zu verstehen ist. Dazu gehört, dass man eigene Fehler nicht unter dem Tisch kehrt (siehe dazu etwa den Beitrag von Sonia Mikich); dazu gehören würde allerdings auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit "Storytelling", ein Format, bei dem die gute Geschichte oft wichtiger ist als die Wahrheit (man denke an Claas Relotius).

Dies einige Aspekte dieses verdienstvollen Sammelbandes (eine Gesamtwürdigung gehört in berufenere Hände), der von sympathischen Reminiszenzen des Herausgebers Volker Lilienthal eingeleitet wird und ziemlich umfassend Auskunft gibt über Medien- und Zeitfragen. Besonders erfreulich ist, dass viele Beiträge sich wiederum auf andere Beiträge beziehen und damit deutlich gemacht wird, dass Journalismus immer auch ein Austausch, ein Dialog ist.

Fazit: Eine sehr gut geschriebene, bestens dokumentierte Bestandesaufnahme des gegenwärtigen Journalismus, die überzeugend illustriert, dass Medienleute zwar nicht unvoreingenommen sind, was sie jedoch nicht daran hindert, sich darum zu bemühen. Kurz und gut: Überaus nützliche Aufklärung.

Volker Lilienthal (Hrsg.)
"Sagen, was ist"
Journalismus für eine offene Gesellschaft – Rudolf Augstein zum 100. Geburtstag
Herbert von Halem Verlag, Köln 2024

Sunday, 1 December 2024

Die Gesellschaft der Opfer

Der Titel der französischen Originalausgabe, Je souffre donc je suis. Portrait de la victime en héros (Ich leide also bin ich. Porträt des Opfers als Held) bringt für mich besser als der deutsche Titel auf den Punkt, wovon dieses Buch wesentlich handelt. Nur eben: "Ich leide, also bin ich" stand nicht zur Verfügung, denn so hiess bereits ein früherer Titel. Doch so recht eigentlich geht dieser ungeheuer dichte Text weit darüber hinaus und befasst sich mit Fragen der Würde, des Anstands, des Mutes, der Eigenverantwortung sowie der Zivilcourage.

Mensch zu sein ist sowohl Schicksal als auch Entscheid, schliesslich bestimmen wir mit, wer wir sein, wie wir leben und uns dem Leben gegenüber verhalten wollen. Dabei spielt auch die Kultur, in die wir hineingeboren werden, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Falle von Europäern und Amerikanern ist dies die christliche, welche die Heiden verdrängte, "die entsetzt waren über die Verherrlichung eines Gottes, der sich wie ein Sklave hatte kreuzigen lassen, um die Menschheit zu retten."

Der Philosoph und Romancier Pascal Bruckner, 1948 geboren, betrachtet uns als die Erben dieser Revolution, die sich in den letzten zwei Jahrtausenden für die Entrechteten eingesetzt, dabei jedoch auch die Pose des Opfers hervorgebracht hat. Am ausgeprägtesten wird die Opferrolle in den reichen Ländern gepflegt, wo die Unzufriedenheit besonders gross scheint.

Der Mensch leidet, sucht Erklärungen, zu mehr als Rechtfertigungen reicht es jedoch nicht. "Sämtliche Religionen sind mit Sinn erfüllt, sie sind nur dazu da, Kummer, Trauer und Tod erträglich zu machen, indem sie sie einem höheren Plan zuschreiben." Die Kirchen mögen heute oft leer sein, das Bedürfnis nach Sinn gibt es jedoch nach wie vor. Auch Pascal Bruckner bemüht sich mit seinen Welterklärungen darum, Sinn herzustellen, wobei er ausgesprochen traditionell argumentiert, also davon ausgeht, dass uns die Vergangenheit etwas über die Gegenwart lehren könne.

Selbstverständlich kann der Blick in die Vergangenheit hilfreich sein, auch weil er uns darauf aufmerksam macht, dass etwa die Moral des 17. Jahrhunderts, als es für wünschenswert galt, über seine Leidenschaften zu triumphieren, eine weit gesündere Lebenseinstellung war als der heute grassierende Narzissmus und Infantilismus, der sich auch darin zeigt, dass für jedes Missgeschick Schadenersatz in Millionenhöhe gefordert wird. Dass Anwälte und Gerichte dazu Hand bieten, zeigt einmal mehr, was das Recht vor allem ist: ein Business-Modell.

Es gehört zu den Charakteristika unserer Zeit, dass wir in Informationen ersaufen und grösstenteils verlernt haben, Wesentliches von Unwesentlichem, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Die vielen Beispiele, die Pascal Bruckner anführt, machen darüber hinaus deutlich, dass uns jede Verhältnismässigkeit abhanden gekommen ist. Da wird eine junge Schauspielerin, die im Alter von zwölf Jahren sexuell berührt wurde, mit einem Häftling in Auschwitz verglichen; da wird angesichts der Tatsache, dass die meiste Gewalt von Männern ausgeht, vollkommen ausser Acht gelassen, dass Frauen untereinander ebenso gewalttätig sind wie Männer gegen Frauen; da können die Juden tun, was immer sie wollen, sie werden immer im Unrecht sein.

In einem Klima von 'Fake News', die meist von denen produziert werden, die sich heftig darüber beklagen, wird die Wahrheit systematisch mit Lügen hintertrieben. Auch mit der Behauptung, in seinen Gefühlen verletzt zu sein, wird zunehmend Schindluder getrieben. Der Gipfel der Absurdität wurde mit dem Einmarsch in die Ukraine besiegelt, als Russland behauptete, sich gegen die dortigen Nazis und die Nato wehren zu müssen. "Russland will die Welt retten, während ein grosser Teil der Welt nur daran denkt, sich vor Russland zu retten."

Was auch immer uns zustösst – wir sind nicht nur dem Schicksal ausgelieferte Opfer, sondern auch aufgerufen, uns zu verhalten, zu positionieren, zu entscheiden. Bewusst zu entscheiden. Etwa zum Widerstand, indem wir zum Beispiel Gräueltaten mit der Kamera dokumentieren. "Doch das Bild  hat zwei Seiten: es schockiert und stumpft ab, sobald es durch andere Bilder ersetzt wird", so der Autor. Nur eben: Das stimmt so nicht, denn es gibt auch in der heutigen Bilderflut immer wieder solche, die uns bleiben. Warum das so ist, weiss ich nicht. Es kümmert mich auch nicht, mir genügt, dass ich es feststellen kann.

Die Gesellschaft der Opfer ist erhellend, vielfältig anregend und spannend zu lesen, ein luzides Porträt unserer (westlichen) Zeit, deren Bewohner sich wohl mehrheitlich als sensibel und am Leben leidend einstufen würden, jedoch hauptsächlich egozentrisch und wehleidig unterwegs sind. Darüber hinaus fühlen sich allzu viele ständig zu irgendetwas berechtigt, besonders natürlich die, denen ein Unrecht widerfahren ist und die sich deswegen quasi geadelt fühlen. "Die Märtyrer überbieten sich gegenseitig" lautet eine der Kapitelüberschriften.

Aussergewöhnlich an diesem Buch ist einerseits die beeindruckende Bandbreite des Wissens, die der Autor vorführt, und andererseits das originelle und überzeugende Zusammenführen ganz unterschiedlicher Wissensgebiete, von der sensualistischen Philosophie Condillacs zum deutschen Mystiker Angelus Silesius, für den es kein Warum gegeben hat, vom wütenden kleinen Beamten Putin zur Schriftstellerin Virginie Despentes, "die, als die Redakteure von Charlie Hebdo ermordet wurden, eine Liebeserklärung an die Brüder Kouachi anstimmte."

Die Gesellschaft der Opfer ist ein wesentliches Buch, das an vielen konkreten Beispielen aufzeigt, dass durch die Hölle zu gehen nicht bedeuteten muss, sich anschliessend mit seinem Opferstatus zu brüsten. Man denke etwa an Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker, die statt zu lamentieren und sich selber zu bemitleiden, ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. "Das Unglück ist eine Tatsache, es hat keinen Sinn, einen Glauben daraus zu machen."

Fazit: Eine wohltuende Stimme der Vernunft in unseren Zeiten des Infantilismus und des egomanischen Irrsinns. Überaus hilfreich!

Pascal Bruckner
Die Gesellschaft der Opfer
Porträt des Erniedrigten als Held
Edition Tiamat, Berlin 2024