Sunday, 8 December 2024

Amerika 1930

Dieses Buch handelt von dem fast sechsmonatigen Aufenthalt von Otto Scheid 1930 in den Vereinigten Staaten. Otto Scheid, 1901 in Maria Enzersdorf bei Wien geboren, studierte an der TU Berlin-Charlottenburg Metallurgie und zeigte sich so begabt, dass sein Professor ihn auf seine Amerika-Tournee mitnehmen wollte. Da der Professor zur Abfahrt aus Bremerhaven nicht erschien, trat Otto die Reise alleine an, allerdings ohne ein Wort Englisch zu können.

1930, das war die Zeit der great depression, wie die Weltwirtschaftskrise in Amerika genannt wird, die gekennzeichnet war durch eine gewaltige Arbeitslosigkeit. Otto Scheid schreibt kaum davon, er war selber auf Arbeitssuche und schildert diese sehr amüsant.

"Was die Zeit um 1930 so bedeutungsvoll macht, sowohl in Europa, in Amerika wie auch weltweit, sind die vielen Veränderungen durch den fortschreitenden Erfolg von technischen Erfindungen und die darauf folgenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Otto beschreibt in seinen Briefen genau diese dynamischen Spannungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft.", so Andreas Maleta im Vorwort.

Andreas Maleta war Korrespondent in Ägypten und Indien (für wen erfährt man nicht), lebte später in den USA und erhielt vor einigen Jahren die Briefe von Otto Scheid zur Ansicht. Diese Briefe bilden die Grundlage zu diesem Buch. Amerika 1930 ist jedoch weit mehr als eine Zusammenstellung dieser Briefe, denn Autor Maleta liefert nicht nur Kontext, sondern zeigt auch erhellende Übereinstimmungen von Scheids Eindrücken mit den Reiseberichten von Alexander Roda Roda, Egon Erwin Kisch und Vicki Baum.

Scheids Ankunft gestaltete sich katastrophal; ihm fehlte die nötige Kaution von US$500, von der er gar nicht wusste, dass er sie beizubringen hatte, und so landete er auf Ellis Island, wo die Ankömmlinge als Eindringlinge behandelt und ihnen klar gemacht wurde, dass die Amis die Grössten und Besten sind, und es ein Privileg ist, ins Land gelassen zu werden.

Es versteht sich: Wir alle gehen mit Erwartungen durch die Welt, bewussten und unbewussten. "Entgegen meiner Erwartung sind die Menschen hier recht unfreundlich und stellenweise auch ziemlich ungastlich. Alles geht hier nur um den Dollar, Dollar und wieder Dollar! Es ist ein sehr angestrengtes Leben, das die Leute hier führen." Als er später Kuba besucht, notiert er: "Eine recht kämpferische Bevölkerung, aber im persönlichen Kontakt von einer geradezu lächerlichen Höflichkeit, besonders auffallend, wenn man sich an amerikanische Sitten schon etwas gewöhnt hat."

Was ihm  auch gleich zu Beginn auffällt (es sind zumeist diese ersten Eindrücke, die besonders aufschlussreich sind): Dass niemand zu Fuss geht, dass niedrigste Arbeiten genau so geschätzt werden wie höhere, dass alles immer ganz schnell gehen muss. Doch er bemerkt auch: "Alles geht hier eilig, alles im D-Zug-Tempo und trotzdem haben die Leute hier immer zu allem Zeit. Ich glaube, die Eile ist mehr Mache und zur Gewohnheit geworden als tatsächliche Notwendigkeit."

Die für einen gebildeten Europäer eher ruppigen Umgangsformen der Amerikaner behagen ihm nicht. Am Kaugummikauen stösst er sich besonders. "Die allgemeine Volksnahrung ist der Kaugummi, dieser ist in der Subway besonders beliebt. Mit geschlossenem Mund murmelt jeder irgendwas Unverständliches vor sich hin oder schaut in seine Zeitung – auch die Frauen."

Vieles an Amerika ist Show, der wichtigste Export des Landes Hollywood Und so klaffen Vorstellung und Realität oft auseinander. "Die Freiheitsstatue ist anscheinend auch nur zum Anschauen von Frankreich geschenkt worden, den inneren Sinn haben die Amerikaner nicht kapiert."

Dass es damals schon Fastfood Restaurants gab, von Scheid als Schnellspeisehäuser bezeichnet, erstaunt mich. Ebenso, dass es schon damals amerikanische Sitte war, vermeintliche Belästigungen sofort bei der Polizei zu melden. "Es gibt hier viele Frauen, die von Erpressungen dieser Art leben." Verblüfft hat mich auch, dass die Columbia University in New York von einer Stiftung aus Banken finanziert wurde.

"Nun ja, in Amerika erzählt man bei allem immer, was es gekostet hat." Und so notiert er, was die Dinge kosten (in Klammern wird jeweils angegeben, wieviel das heute wäre), stellt ständig Vergleiche an, wie das natürlich alle tun, jedoch selten jemals so sympathisch und unprätentiös. In Cleveland notiert er: "Mein Häuschen ist umgeben von einem Garten, ich wohne da im 1. Stock, nicht mehr im zehnten, sehe sogar ins Grüne, wo Palmen wachsen und im Schatten schwarze Frauen Wäsche glätten. Das könnte auch in Afrika so sein, war zwar nie dort, jedenfalls ist es hier ebenso heiss."

Dieses reich bebilderte Amerika 1930 beleuchtet ganz viele Aspekte und geht dabei weit über ein historisches Dokument hinaus, denn vieles, was Otto Scheid einst wahrgenommen hat, gilt auch heute noch, wenn auch nicht nur in Amerika. "Das ganze Gesellschaftsleben trägt den Charakter hinterlistiger Verlogenheit: nach aussen hin feudal vornehm." Was im Übrigen ganz besonders für dieses Werk spricht, ist, dass der Autor sich herrlich unverblümt ausdrückt – zum Diplomaten hätte er wenig getaugt, dafür war er viel zu "normal". Man ist froh drum!

Andreas Maleta
Amerika 1930
ZEITENWENDE
Reise zur einer Weltmacht im Entstehen
Die Beobachtungen eines Wieners aus Berlin
in der Weltwirtschaftskrise
Ibera Verlag, Wien 2024

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