Wednesday, 4 December 2024

"Sagen, was ist"

Wir leben in verwirrenden Zeiten. Das sagt jeder (Frauen, Männer und Non-Binäre). Und jeder meint damit etwas anderes. In meinem Falle heisst das: Die Welt meiner Jugend, in der für mich Begriffe wie Demokratie, Bildung, Rechtsstaat, Journalismus als sogenannt vierte Gewalt, selbstverständlich waren, gibt es für mich nicht mehr. Ich bin mittlerweile alt genug (Jahrgang 1953), um Schopenhauers Einsicht bestens nachvollziehen zu können: "Erst im späten Alter erlangt der Mensch ganz eigentlich das horazische nil admirari, d.h. die unmittelbare, aufrichtige und feste Überzeugung von der Eitelkeit aller Dinge und der Hohlheit aller Herrlichkeiten dieser Welt: die Chimären sind verschwunden."

Die Wahrnehmung der Autorinnen und Autoren dieses Bandes ist eine andere. Sie behaupten – gescheit, nachdenklich, differenziert und eloquent – die Relevanz der Medien als kritische Instanz. "Es geht also um Kritik. Und wo Kritik ist, da ist Aufklärung. Wo Aufklärung ist, ist Einsicht. Wo Einsicht ist, kann an der Beseitigung von Missständen gearbeitet werden. So gesehen, ist 'sagen, was ist', eine nützliche, ja notwendige Voraussetzung für die Verbesserung der herrschenden Zustände. Oder etwa nicht?" Soweit Franziska Augstein. Dieses traditionelle Journalismus-Verständnis, so kommt es mir vor, hat sich überlebt, taugt nicht mehr. Schliesslich haben die Medien in Sachen Trump hervorragende Aufklärung geleistet, der Mehrheit der amerikanischen Wähler (so es denn mit rechten Dingen zugegangen sein sollte) war ihr Wissen über den Mann jedoch egal. Mit anderen Worten: Sachliche Aufklärung macht in der Politik kaum einen Unterschied; die Leute wählen nicht aufgrund von Informationen, sondern von Emotionen – und die haben sich bei den meisten, nicht nur den Amerikanern, seit dem 12ten Altersjahr kaum weiterentwickelt.

Solange wir uns an einem Menschenbild orientieren, das in keinster Weise der Wirklichkeit entspricht (wir sind keine von der Vernunft geleitete Wesen, sind mit den Möglichkeiten der modernen Welt heillos überfordert), wäre das kritische Nachfragen (ein Kernelement des Journalismus) in der Tat eine gute Sache, doch der Mensch ist triebgesteuert und emotional und, falls mit Verstand ausgestattet, benutzt er diesen zur Rechtfertigung seiner impulsiven Entscheide. Und obwohl dieser Band wirklich guten Journalismus liefert, inklusive Quellenangaben, fundamentale Fragen stellt er nicht. Damit meine ich die ständigen Hinweise darauf, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, ohne sich auch nur einmal zu fragen, ob das eigentlich stimmt. Im Kapitalismus regiere nicht das Volk, sondern das Geld, meinte einst Horst Herold, ehemals Chef des BKA.

Nichtsdestotrotz: An der kritischen Auseinandersetzung fehlt es nicht. So weist etwa Armin Wolf auf Jay Rosens "Both-Sidesism" (2020) hin, worauf Sanitsuda Ekachai von der "Bangkok Post" allerdings bereits 2008 aufmerksam gemacht hat. Folgenlos, so weit ich weiss. Auch wird man auf Konzepte wie "Constructive Journalism" und "Friedensjournalismus" aufmerksam gemacht. So ziemlich alles, so mein Eindruck, das heutzutage öffentlich diskutiert wird, kommt in diesem Band vor. Zum Schönsten gehört für mich, was Anton Troianovski 2012 im Süden der Vereinigten Staaten erlebt hat ... doch lesen Sie selbst, es ist eine ganz wunderbare Geschichte.

Gelegentlich wähnte ich mich bei der Lektüre in den Schulunterricht zurückversetzt. Etwa, wenn ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass ich wissen müsse, was in den sozialen Medien so abgeht (Nicole Diekmann), da sonst Recherche nicht möglich sei. Keine Frage, sie hat Recht, sofern man davon ausgeht, es dürfe möglichst nichts ausgelassen werden. Also auch die Frage, was 'in depth' und was 'investigativ' sei (Elisa Simantke). Nun ja, zu unterscheiden, was wesentlich und was unwesentlich ist, war schon immer schwierig, und wird zumeist recht willkürlich beantwortet. Diesbezüglich ist der Mensch verblüffend stabil.

"Sagen, was ist" ist auch ein Buch über das journalistische Selbstverständnis, das sich auf das Grundrecht der Pressefreiheit beruft. Georg Mascolo schreibt dazu: "Denn was im Grundgesetz so grossartig aufgeschrieben und garantiert worden war, das war leider noch lange nicht in den Köpfen so vieler angekommen." Mir scheint allerdings eher, dass es höchstens in den Köpfen, doch leider nicht in den Herzen angekommen ist, also gar nicht.

Bei der Fotografie, mit der ich mich viele Jahre intensiv auseinandergesetzt habe, ist alles – wie im Journalismus – schon da, nur der Rahmen fehlt: Was nehme ich rein, was lasse ich raus? "Augsteins Credo ernst zu nehmen, bedeutet übrigens auch, nicht zu sagen, was nicht der Rede wert ist. Also auf Meldungen zu rein destruktiven, sinnlosen, gedankenlosen Beiträgen zu verzichten." (Melanie Amann).

"Sagen, was ist" wird in diesem Band ganz unterschiedlich interpretiert. Was Augstein wirklich gemeint hat; Der Satz stammt gar nicht von ihm; Was der Satz heute bedeutet. Das Übliche also. Meine eigene Sichtweise geht so: Man muss neugierig sein, hinschauen, wirken und sich setzen lassen, was man registriert hat. Auch seinen Verstand einzusetzen gehört zum Feststellen von dem, was ist. Kontext hingegen nur beschränkt, denn der ist immer konstruiert. Das sehen einige in diesem Band anders, sie finden, das reiche heute nicht mehr. So interessant und anregend sich die Ausführungen von Wolfgang Blau, Christian Stöcker und Christina Elmar auch lesen, nur wer sich aufs nüchterne Hinsehen und Benennen dessen, was sich ihm oder ihr offenbart, zu beschränken weiss, versteht, worum es im Leben geht – um das, was ist.

"Sagen, was ist" ist spannend zu lesen und sehr informativ – eine exzellente Auseinandersetzung darüber, was unter seriösem Journalismus zu verstehen ist. Dazu gehört, dass man eigene Fehler nicht unter dem Tisch kehrt (siehe dazu etwa den Beitrag von Sonia Mikich); dazu gehören würde allerdings auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit "Storytelling", ein Format, bei dem die gute Geschichte oft wichtiger ist als die Wahrheit (man denke an Claas Relotius).

Dies einige Aspekte dieses verdienstvollen Sammelbandes (eine Gesamtwürdigung gehört in berufenere Hände), der von sympathischen Reminiszenzen des Herausgebers Volker Lilienthal eingeleitet wird und ziemlich umfassend Auskunft gibt über Medien- und Zeitfragen. Besonders erfreulich ist, dass viele Beiträge sich wiederum auf andere Beiträge beziehen und damit deutlich gemacht wird, dass Journalismus immer auch ein Austausch, ein Dialog ist.

Fazit: Eine sehr gut geschriebene, bestens dokumentierte Bestandesaufnahme des gegenwärtigen Journalismus, die überzeugend illustriert, dass Medienleute zwar nicht unvoreingenommen sind, was sie jedoch nicht daran hindert, sich darum zu bemühen. Kurz und gut: Überaus nützliche Aufklärung.

Volker Lilienthal (Hrsg.)
"Sagen, was ist"
Journalismus für eine offene Gesellschaft – Rudolf Augstein zum 100. Geburtstag
Herbert von Halem Verlag, Köln 2024

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