Der Titel der französischen Originalausgabe, Je souffre donc je suis. Portrait de la victime en héros (Ich leide also bin ich. Porträt des Opfers als Held) bringt für mich besser als der deutsche Titel auf den Punkt, wovon dieses Buch wesentlich handelt. Nur eben: "Ich leide, also bin ich" stand nicht zur Verfügung, denn so hiess bereits ein früherer Titel. Doch so recht eigentlich geht dieser ungeheuer dichte Text weit darüber hinaus und befasst sich mit Fragen der Würde, des Anstands, des Mutes, der Eigenverantwortung sowie der Zivilcourage.
Mensch zu sein ist sowohl Schicksal als auch Entscheid, schliesslich bestimmen wir mit, wer wir sein, wie wir leben und uns dem Leben gegenüber verhalten wollen. Dabei spielt auch die Kultur, in die wir hineingeboren werden, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Falle von Europäern und Amerikanern ist dies die christliche, welche die Heiden verdrängte, "die entsetzt waren über die Verherrlichung eines Gottes, der sich wie ein Sklave hatte kreuzigen lassen, um die Menschheit zu retten."
Der Philosoph und Romancier Pascal Bruckner, 1948 geboren, betrachtet uns als die Erben dieser Revolution, die sich in den letzten zwei Jahrtausenden für die Entrechteten eingesetzt, dabei jedoch auch die Pose des Opfers hervorgebracht hat. Am ausgeprägtesten wird die Opferrolle in den reichen Ländern gepflegt, wo die Unzufriedenheit besonders gross scheint.
Der Mensch leidet, sucht Erklärungen, zu mehr als Rechtfertigungen reicht es jedoch nicht. "Sämtliche Religionen sind mit Sinn erfüllt, sie sind nur dazu da, Kummer, Trauer und Tod erträglich zu machen, indem sie sie einem höheren Plan zuschreiben." Die Kirchen mögen heute oft leer sein, das Bedürfnis nach Sinn gibt es jedoch nach wie vor. Auch Pascal Bruckner bemüht sich mit seinen Welterklärungen darum, Sinn herzustellen, wobei er ausgesprochen traditionell argumentiert, also davon ausgeht, dass uns die Vergangenheit etwas über die Gegenwart lehren könne.
Selbstverständlich kann der Blick in die Vergangenheit hilfreich sein, auch weil er uns darauf aufmerksam macht, dass etwa die Moral des 17. Jahrhunderts, als es für wünschenswert galt, über seine Leidenschaften zu triumphieren, eine weit gesündere Lebenseinstellung war als der heute grassierende Narzissmus und Infantilismus, der sich auch darin zeigt, dass für jedes Missgeschick Schadenersatz in Millionenhöhe gefordert wird. Dass Anwälte und Gerichte dazu Hand bieten, zeigt einmal mehr, was das Recht vor allem ist: ein Business-Modell.
Es gehört zu den Charakteristika unserer Zeit, dass wir in Informationen ersaufen und grösstenteils verlernt haben, Wesentliches von Unwesentlichem, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Die vielen Beispiele, die Pascal Bruckner anführt, machen darüber hinaus deutlich, dass uns jede Verhältnismässigkeit abhanden gekommen ist. Da wird eine junge Schauspielerin, die im Alter von zwölf Jahren sexuell berührt wurde, mit einem Häftling in Auschwitz verglichen; da wird angesichts der Tatsache, dass die meiste Gewalt von Männern ausgeht, vollkommen ausser Acht gelassen, dass Frauen untereinander ebenso gewalttätig sind wie Männer gegen Frauen; da können die Juden tun, was immer sie wollen, sie werden immer im Unrecht sein.
In einem Klima von 'Fake News', die meist von denen produziert werden, die sich heftig darüber beklagen, wird die Wahrheit systematisch mit Lügen hintertrieben. Auch mit der Behauptung, in seinen Gefühlen verletzt zu sein, wird zunehmend Schindluder getrieben. Der Gipfel der Absurdität wurde mit dem Einmarsch in die Ukraine besiegelt, als Russland behauptete, sich gegen die dortigen Nazis und die Nato wehren zu müssen. "Russland will die Welt retten, während ein grosser Teil der Welt nur daran denkt, sich vor Russland zu retten."
Was auch immer uns zustösst – wir sind nicht nur dem Schicksal ausgelieferte Opfer, sondern auch aufgerufen, uns zu verhalten, zu positionieren, zu entscheiden. Bewusst zu entscheiden. Etwa zum Widerstand, indem wir zum Beispiel Gräueltaten mit der Kamera dokumentieren. "Doch das Bild hat zwei Seiten: es schockiert und stumpft ab, sobald es durch andere Bilder ersetzt wird", so der Autor. Nur eben: Das stimmt so nicht, denn es gibt auch in der heutigen Bilderflut immer wieder solche, die uns bleiben. Warum das so ist, weiss ich nicht. Es kümmert mich auch nicht, mir genügt, dass ich es feststellen kann.
Die Gesellschaft der Opfer ist erhellend, vielfältig anregend und spannend zu lesen, ein luzides Porträt unserer (westlichen) Zeit, deren Bewohner sich wohl mehrheitlich als sensibel und am Leben leidend einstufen würden, jedoch hauptsächlich egozentrisch und wehleidig unterwegs sind. Darüber hinaus fühlen sich allzu viele ständig zu irgendetwas berechtigt, besonders natürlich die, denen ein Unrecht widerfahren ist und die sich deswegen quasi geadelt fühlen. "Die Märtyrer überbieten sich gegenseitig" lautet eine der Kapitelüberschriften.
Aussergewöhnlich an diesem Buch ist einerseits die beeindruckende Bandbreite des Wissens, die der Autor vorführt, und andererseits das originelle und überzeugende Zusammenführen ganz unterschiedlicher Wissensgebiete, von der sensualistischen Philosophie Condillacs zum deutschen Mystiker Angelus Silesius, für den es kein Warum gegeben hat, vom wütenden kleinen Beamten Putin zur Schriftstellerin Virginie Despentes, "die, als die Redakteure von Charlie Hebdo ermordet wurden, eine Liebeserklärung an die Brüder Kouachi anstimmte."
Die Gesellschaft der Opfer ist ein wesentliches Buch, das an vielen konkreten Beispielen aufzeigt, dass durch die Hölle zu gehen nicht bedeuteten muss, sich anschliessend mit seinem Opferstatus zu brüsten. Man denke etwa an Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker, die statt zu lamentieren und sich selber zu bemitleiden, ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. "Das Unglück ist eine Tatsache, es hat keinen Sinn, einen Glauben daraus zu machen."
Fazit: Eine wohltuende Stimme der Vernunft in unseren Zeiten des Infantilismus und des egomanischen Irrsinns. Überaus hilfreich!
Pascal Bruckner
Die Gesellschaft der Opfer
Porträt des Erniedrigten als Held
Edition Tiamat, Berlin 2024
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