Wednesday, 27 August 2025

Grosse Literatur im Detail

"Woran erinnert man sich, wenn man sich an Lektüren erinnert? Weniger an Handlungsverläufe als an Details", so der 1960 geborene Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker Michael Maar. Von den vielen Details, die er erinnert, ist in diesem Buch die Rede. Das ist spannend, aufschlussreich, anregend und verhilft zu verblüffenden Einsichten.

Doch stimmt das eigentlich, erinnert man sich wirklich an die Details? In meinem Falle: Manchmal schon, doch weit häufiger erinnere ich mich, wo ich ein Buch gekauft, wo ich es gelesen und wo es mich hinbegleitet hat. 

Doch zurück zu den Details. Michael Maar ist ein Mann der Literatur, hat also wohl einen etwas anderen Blick auf Bücher als der zwar interessierte, doch nicht professionelle Leser. Dazu kommt: Er ist ein begabter Vermittler. Dieses Werk bietet eine ungewöhnlich, originelle und packende Einführung in die Literatur, die Michael Maar am Herzen liegt.

Doch so recht eigentlich geht Das violette Hündchen über die Literatur hinaus und liefert eine grundsätzliche, überaus hilfreiche Orientierungshilfe fürs Leben. "Es gibt nichts anderes als Details", hat der Zen-Meister Maezumi Roshi einmal gesagt. Und: "Kleinigkeiten sind nicht klein." Wobei: So sehe ich es, Michael Maar versteht sein Werk entschieden anders, was er unter anderem so ausdrückt: "Man musste Jane Austen sein, um zu schreiben wie sie." Oder: "Keine andere hätte schreiben können wie Virginia Woolf." Mit selber ist dieser Persönlichkeitskult fremd. Und nicht nur das: Ich halte diese Heldinnenverehrung für das grösste Übel "unserer" Kultur. Begabte Menschen sind meines Erachtens nichts als Gefässe, in denen sich manifestiert, was in vielen, wenn nicht in allen von uns, wohnt.

Doch zurück zum Buch: Das violette Hündchen hat seinen Auftritt in Krieg und Frieden, trägt zur Handlung rein gar nichts dabei und würde von keinem Leser vermisst, wenn es fehlen würde, befindet Michael Maar, der hingegen Humberts Hündchen in Lolita als unabdingbar einschätzt. "Ohne das Hündchen keine Lolita." Das Detail erfährt seine Bedeutung im Kontext; ohne Einbettung in einen Rahmen ist es bedeutungslos.

Michael Maar ist der klassische Bildungsbürger, der neben Nabokov und Thomas Mann zu den wohl wenigen gehört, die Don Quijote von der ersten bis zur letzten Seite gelesen haben, um dann zu Bram Stokers Dracula überzuleiten, von dem er ganz Vieles und ganz Unterschiedliches zu berichten weiss, insbesondere die verschiedenen Bezugnahmen (Hamlet, Lord Byron, Mark Twain und und und) haben es ihm angetan. Auch dass der literarische Zirkel in London klein war, erfährt man; man kannte sich. Empfindsamere Seelen mögen sich von diesem geballten Wissen gelegentlich erschlagen fühlen, auf andere, womöglich ebenso empfindsame, wird hingegen die Begeisterung des Autor, der die Fülle dieser Details geschickt zusammenzuführen weiss, anstecken.

Damit einem Details auffallen, muss man ein genauer Leser sein. Und das ist Michael Maar zweifellos. Seine Gabe besteht jedoch vor allem darin, Verbindungen aufzuzeigen, auf die ein nicht einschlägig Bewanderter wohl kaum kommen würde. Mir jedenfalls wäre gar nicht in den Sinn gekommen, dass es  Parallelen zwischen Henry James und Patricia Highsmith geben könnte. Apropos Highsmith: Als sie sich in Tegna bemüssigt fühlte, einmal die Dorfgemeinschaft einzuladen, schloss sie sich im Klo ein, bis auch der letzte Gast gegangen war. Es ist dies ein Detail, das meine Wahrnehmung der Highsmith künftig mitprägen wird.

Je mehr meine Lektüre voranschreitet, desto mehr scheint sich des Autors Behauptung, dass man vor allem die Details in Erinnerung behalte, zu bestätigen. So erfahre ich von Agota Kristof nicht nur, dass sie auf Französisch schrieb und diese Sprache hasste, sondern auch, dass ihr die Schweiz zeitlebens fremd blieb. In Wikipedia ist allerdings zu lesen: "Für ihre Heimat wider Willen, die Stadt Neuenburg, hatte sie, wie sie 2002 der Zeitschrift der Universität Neuenburg eingestand, 'ein sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl'".

Es sind nicht zuletzt die vielen Hinweise, die dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre machen. So lernt man etwa, wenn er über Colette schreibt, auch etwas über Tschechow. "Eine ihrer Stärken besteht in den Dialogen, schon als Kind war sie, darin Tschechow verwandt, eine offenbar begnadete Imitatorin." Auch erfährt man von Nabokovs abschätzigem Kommentar zu Faulkner, dessen Licht im August Maar in den höchsten Tönen lobt, was mich unverzüglich zu diesem einst angefangenen, doch nie zu Ende gelesenem Werk greifen lässt

Das violette Hündchen lädt ein, Entdeckungen zu machen. Sei es, dass man, wie in meinem Falle, zum ersten Mal von und über Autoren liest wie Leo Perutz oder Irène Némirovsky, von denen man nur die Namen kenne, sei es, dass man Bücher, die man kennt wie etwa Jonathan Franzens Crossroads oder Salman Rushdies Knife mit neuen Augen liest. Es sei nicht Eitelkeit, was Rushdie unter anderem charakterisiere, sondern Verletztheit, so Maar. Nous ne sommes que 'les interprètes des interprétations", zitiert George Steiner in Les Antigones Montaigne.

"Dass sein Werk strikt autobiografisch sei und er von sich sagen dürfe oder müsse, niemals etwas erfunden zu haben, hat Thomas Mann hunderte Male wiederholt." Dass Das violette Hündchen von den Vorlieben seines Autors handelt, erklärt er selbe, wobei er auch nicht zu erwähnen vergisst, wen er leider, leider hat weglassen müssen. Für mich besonders bedauernswert: Eric Ambler, Raymond Chandler, Haruki Murakami und und und.

Das violette Hündchen macht mich neugierig. Nicht zuletzt, weil es mich immer wieder verblüfft, Autoren und Werke zusammenbringt, die ich selber, wenn überhaupt, bislang nur separat wahrgenommen habe. Conan Doyle und Sigmund Freud etwa. Doch lesen Sie selbst!

Ein Buch für alle, die ein Jegliches für bedeutsam befinden und unerwartete Zusammenhänge zu entdecken bereit sind. Und gleichzeitig eine meisterhafte, ziemlich einzigartige, eigenwillige und höchst anregende Einführung in Michaels Maars Weltliteratur. 

Michael Maar
Das violette Hündchen
Grosse Literatur im Detail
Rowohlt, Hamburg 2025

Sunday, 24 August 2025

See you later

Mich erfreut der englische Humor, und der Schalk und Witz von Alan Bennett ganz besonders. Nicht einmal, dass er ein erfolgreiches Autor ist, stört mich.

Die Briten haben es nicht so mit direkten, klaren Aussagen. Viele andere auch nicht, man denke etwa an die Brasilianer, doch hier geht nun einmal um die Briten. "Haben Sie eine Nachricht hinterlassen?" "Nicht direkt."

Im Hill Topp House, das weniger ein Seniorenheim als ein Club ist, macht man auch regelmässig gemeinsame Ausflüge. "Erst letzte Woche waren wir auf einem Bauernhof in der Nähe, wo sie einen Flamingo haben." "Nur einen einzigen?"

Im Altersheim arbeitet auch die Pflegerin Zulema, die auf die Frage, aus welchem Teil Afrikas sie stamme, mit 'Peckham', antwortete, was als frech empfunden wurde, auch wenn sie selber, wie sie sagt, noch nie eine Lehmhütte gesehen hat.

Mein erster Höhepunkt, also da, wo ich zum ersten Mal Tränen lachte, ereignete sich bereits auf Seite fünf, als Zulema sich bei Woodruff erkundigte, ob er fertig sei. "Sie meinte damit nicht seinen Monolog, sondern sein Essenstablett, wo sich der geronnene Saft des Putenhacks mit dem Puddingrest vermengte. Woodruff hielt seine schützende Hand über sein Tablett und deutete damit an, dass er in dieser unappetitlichen Mischung noch Potential sah ...".

Alan Bennett hat nicht nur ein Auge für die vielfältigen Absurditäten des Lebens ("Ich habe ganz vergessen, wie er aussieht", sagte Miss Halliwell. "Wer?" "Prince Charles." Auch das war etwas, was uns ständig verlorenging: der Gesprächsfaden. "Warum müssen Sie das denn wissen? "Muss ich nicht, aber sicher ist sicher. Sie tauchen doch ständig auf." "Wer?" "Prominente." ...),  seine Beobachtungen machen auch deutlich, dass vieles nicht in unserer Kontrolle liegt. "Er blieb 'der Friseur' und wurde von schickeren Etablissements deklassiert, denen nachzueifern Cresswell das Temperament fehlte ...". Oder: "Ein respektvoller Ton lag ihm nicht."

Alten Leuten helfen häufig Andenken sich an ihre Vergangenheit zu erinnern – was früher unter Trödel lief, gilt heute als Sammlerstück. Auch Geburtstage befördern die Erinnerung, obwohl die Jubilare manchmal nicht mehr wussten, wie alt sie waren bzw. es lieber verschwiegen. Und natürlich gibt es in einem englischen Altersheim auch Exzentriker wie Mister Woodruff, der Lebensweisheiten verkündet, die, wenn überhaupt, nur ihm selber einleuchten.

Tränen lachen machten mich auch die Ausführungen zu Covid, die anschaulich zeigen, mit was für eigenwilligen Vorstellungen der Mensch unterwegs ist: Covid gehört nicht in die besseren Kreise; es ist unfair, selber Covid zu kriegen, wenn man alle Vorsichtsmassnahmen einhält. Die Heimleiterin sinniert: "Die Krankheit sollte doch ältere Menschen betreffen, gelegentlich auch Asiaten. Und sie war keins von beiden. Das versuchte sie dem diensthabenden Arzt im Krankenhaus zu erklären, und er tat so, als höre er zu, während er 'beginnende Demenz?' auf ihrer Krankenkarte notierte und ein Beatmungsgerät für sie anforderte, sobald eines frei wurde. Es wurde keines frei. Auch das war nicht fair."

Der zweite Teil des Buchs berichtet von einer Reise nach Leeds, wo der Autor 1934 geboren wurde, und Umgebung sowie einem Pandemietagebuch mit Abstechern zu Thomas Hardys Schaf-Experiment, Graham Greenes schlaffem Händedruck, Boris Johnsons Inkompetenz und der aufklärenden Bemerkung "'Robust', eines der Lieblingswörter der Rechten. Es bedeutet auch 'hartherzig'". 

Alan Bennett
See you later
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2025

Wednesday, 20 August 2025

On Propaganda

 When Brian Eno first visited Russia, in 1986, he made friends with Sacha, a musician whose father had been Brezhnev's personal doctor: "One day we were talking about life during "the period of stagnation" — the Brezhnev era. "It must have been strange being so completely immersed in propaganda," I said. "Ah, but there is the difference. We knew it was propaganda," replied Sacha. "That is the difference. Russian propaganda was so obvious that most Russians were able to ignore it. They took it for granted that the government operated in its own interests and any message coming from it was probably slanted — and they discounted it."

Propaganda is a term not much in use nowadays for we associate it readily with a regime that has absolute power to get certain things propagated — or suppressed — by all media. To put it in a more "neutral" way: propaganda consists of a deliberate attempt at controlling, or altering, peoples attitudes, hoping that a predictable behaviorial change would take place — this can be done in a variety of ways: most recently, governments that were for going to war with Iraq resorted to — if we believe their critics — hyping-up, distorting, manipulating, ignoring, and so on, and so on, information until it was to their liking: attitudes, clearly, were shaken.

In "democratic" societies this is called spin, news management, information management, issues management — terms, with the exception of spin, of course, that radiate an aura of neutrality and thus, ultimately, confound more than they illuminate — probably on purpose. As much as can be described what propaganda is doing — policy, output, technique, methods — there is, so far, no way of establishing if it is actually "working" the way it was intended to. In other words: its effectiveness can't be measured — in the sense that it cannot be directly attributed to the propaganda output — neither can it be proven that it does not work — it is commonly, and quite rightfully, I believe, assumed that the rise of communism and fascism as well as the Second World War appeared to demonstrate the power of propaganda quite effectively.

There is however quite a different type of propaganda that hardly ever gets mentioned. "Its greatest triumph is," Brian Eno wrote in his article for The Observer, "that we generally don't notice it — or laugh at the notion it even exists. We watch the democratic process taking place — heated debates in which we feel we could have a voice — and think that, because we have "free" media, it would be hard for the Government to get away with anything very devious without someone calling them on it. It takes something as dramatic as the invasion of Iraq to make us look a bit more closely and ask: "How did we get here?" How exactly did it come about that, in a world of Aids, global warming, 30-plus active wars, several famines, cloning, genetic engineering, and two billion people in poverty, practically the only thing we all talked about for a year was Iraq and Saddam Hussein? Was it really that big a problem? Or were we somehow manipulated into believing the Iraq issue was important and had to be fixed right now — even though a few months before few had mentioned it, and nothing had changed in the interim ... It isn't just propaganda any more, it's "prop-agenda." It's not so much the control of what we think, but the control of what we think about."

Right. The agenda-setting then. But haven't we been thinking, and for quite some time now, that the media are setting the agenda? So have we been wrong all along and the governments are setting it? Well, why make a distinction between media and governments in the first place? Why buy the crap that there is such a thing as independent media? The media, as we all know, are owned by people with money — and not by idealistically motivated rebels — and people with money usually see to it that their interests are represented by the boys and girls in government.

By the way, the media we're talking about here need to be correctly labelled: mass media, that is. Anybody ever heard of independent mass media?

When Saddam Hussein was captured, BBC and CNN repeated all day long the sequence that showed an old tramp being examined by a medical doctor. It was obvious: the man should be humiliated, and he should be shown being humiliated. Extraordinary footage, indeed. Made available by courtesy of the American government. And the mass media jumped on it. Too good not to be used. Even if it was pure propaganda. The Geneva Conventions? Sure but, again, simply too good not to be used.

Every other month or so, according to Jaap van Ginneken in his Understanding global news, the US government, the world's most powerful agenda-setter, "claims satellite observations show that this or that hostile government is importing sensitive technology, is building unconventional weapons plants, is redeploying army units along its frontiers in a threatening way." Most of the time, the world media devote ample time to such accusations. The question whether these other governments have a right to do so — or are bound by international treaties to refrain from doing so — is often completely bypassed on such occasions ... The opposite hardly ever occurs, that is to say, the same sources and media drawing attention to the fact that the US itself is also constantly developing new non-conventional weapons systems and deploying them in ways which their opposite numbers might perceive as threatening."

Is there a way out? The journalist John Pilger once said that when reading a newspaper he only reads articles by people he knows he can trust. So what should we, ordinary people, who probably do not personally know people who work for the mass media, do? For example: ask ourselves if we need the information we are provided with. Konrad Kellen wrote in the introduction to Jacques Ellul's Propaganda. The formation of men's attitudes that Ellul designated "intellectuals as virtually the most vulnerable of all to modern propaganda, for three reasons: (1) they absorb the largest amount of second-hand, unverifiable information; (2) they feel a compelling need to have an opinion on every important issue of our time, and thus easily succumb to opinions offered to them by propaganda on all such indigestible pieces of information; (3) they consider themselves capable of "judging for themselves."

They literally need propaganda. Not exactly comforting news. But then: this was written in 1965. And we surely have become much more savvy since, haven't we? Nowadays, intelligent people deplore that African villages, for lack of electricity, can't connect to radio, TV, and the internet. One can't help wondering if that is not a blessing.

Sunday, 17 August 2025

Einer reist mit

Ich bin sofort drin, in diesem Buch, von dem mir nie eingefallen wäre, es einen Roman zu nennen. Für mich ist es eher eine Erzählung, ein Bericht, ein Mit-Sich-Selber-Plaudern, Ich fühle mich sehr an mein eigenes Reisen erinnert. Immer zu früh am Flughafen, mit Büchern, die ich mir zu lesen vorgenommen habe, unentschieden, ob ich die Landschaft betrachten oder mich der Lektüre widmen soll.

Was auch immer sie tut, bei Anne Serre stellen sich unvermittelt Assoziationen ein, ganz unterschiedliche, doch häufig im Zusammenhang mit Autoren bzw. ihren Werken. Dann aber auch mit Zahlen, von denen, wie jeder weiss, einige bedeutsamer scheinen als andere, sei es die 12 oder die 8 oder welche auch immer.

Sie fährt mit dem Zug zu einem Literaturfestival, "zwischen meinen Gedanken und meinen Verpflichtungen hin und her gerissen ... Wie fast immer war ich zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gerissen ...". Ein Teufelchen, notiert sie, hält sie davon ab, ganz in der Gegenwart oder ganz in der Vergangenheit zu sein. Sie gibt sich Tagträumen hin.

Ständig gehen ihr andere Schriftsteller durch den Kopf. Von einigen (Walser, Handke, Bernhard ...) hatte ich gehört, andere waren mir neu und erweckten meine Neugier (Enrique Vila-Matas) und bei noch anderen habe ich mich gefragt, ob sie vielleicht erfunden wurden. Eine junger Schweizer Schriftsteller namens Pierre Pier? Mir gänzlich unbekannt, auch Google kennt ihn nicht, was allerdings nicht viel heissen muss.

Vila-Matas schätzt die Autorin wegen seiner Heiterkeit. Ihn persönlich kennenlernen, als sie die Gelegenheit hast, will sie jedoch nicht. "Dieser Mensch hat nichts mit seinem Werk zu tun, so wie kein Mensch etwas mit seinem Werk zu tun hat."

Einer reist mit fasziniert und besticht durch seine vielfältigen Assoziationen. Wann immer sich die Protagonistin an etwas erinnert, löst diese Erinnerung wiederum weitere Erinnerungen aus, an die Familie, and die Kindheit, an Bordeaux, and Schriftstellerkollegen.

Früher war sie regelmässig völlig unvorbereitet zu Lesungen erschienen, das ist mittleerweile anders geworden. Zu ihren Vorbereitungen gehörten auch "zwei, drei hochprozentige Schlucke", die ihr, wie sind meint, zur Präsenz verhalfen. Das mag in ihrem Fall so sein, doch dass sie das auch dem hochberühmten französischen Schriftsteller R. attestiert, der "sturzbetrunken zu einer 'literarischen Begegnung' in New York" erschien, ist hingegen definitiv ein Fehlschluss.

Der Eine, der mitreist, ist Enrique Vilas-Matas, mit dem sie sich austauscht. Ob real oder nicht, klärt Anne Serre nicht, vielmehr spielt sie damit. Was ist schon real? Es gehört zu den Privilegien der Literatur, sich die Realität vorzustellen. Und wer möchte schon behaupten, unsere Vorstellung sei nicht real?

Der zweite Teil ist mit "Vila-Matas leitet Ermittlungen ein" überschrieben. Er handelt davon, dass Vila-Matas eines Tages eine Mail einer ihm unbekannten Rosanna Carriera erhält, die ihm mitteilt, er sei der Vater ihrer Tochter. Spielt ihm da jemand einen Streich? Und was hatte sich vor zwanzig Jahren in seinem Leben zugetragen? Er geht der Sache nach und auch hier sind die vielfältigen Assoziationen, die sich einstellen, spannend und anregend zu lesen.

Im dritten und letzten Teil, "Gesamtansicht des Frühlings", versucht sich die Autorin von Vila-Matas zu befreien. Gelungen war ihr das bei Kafka, und auch bei Bernhard, es müsste doch auch bei Vila-Matas möglich sein ...

Anne Serre
Einer reist mit
Roman
Berenberg Verlag, Berlin 2025

Wednesday, 13 August 2025

Farbenblind

"Ich bin, was man 'halb schwarz, halb hispanisch' nennt (... ) Ich hatte schwarze Freunde, weisse Freunde, asiatischstämmige Freunde, hispanische Freunde und mixed race Freunde. Aber für mich waren sie nicht 'schwarz', 'weiss', 'hispanisch' oder 'mixed race'. Für mich waren es Rodney, Stephen, Javier und Jordan.", schreibt der Autor, Podcaster und Musiker Coleman Hughes in Farbenblind. Als er dann noch Martin Luther Kings "berühmten Ausspruch, wonach der Charakter wichtiger sei als die Hautfarbe" erwähnt, denkt es so in mir: So isses, und so recht eigentlich wäre damit bereits alles Wesentliche gesagt. Nur eben, wer so denkt, verkennt das Wesen der Bücher, bei denen es unter anderem darum geht, die einfachsten Dinge, die oft (wie auch im vorliegenden Fall) klarer nicht sein könnten, zu vernebeln und dies dann als Aufklärung bzw. Problembewusstsein zu deklarieren. Schliesslich braucht der Mensch eine (möglichst interessante) Beschäftigung ...

Ich lese weiter, denn der Mann schreibt gut, und erfahre von Mikroaggression, was bei mir den ersten  Lacher auslöste, denn Mikro- und auch Makroaggressionen (und alles dazwischen) gehören ja so recht eigentlich zum menschlichen Leben und sind keineswegs auf race beschränkt. Als er dann während des Studiums an der Columbia aufgefordert wird, "darüber zu sprechen, wie wir an systemischer Unterdrückung mitwirkten oder von ihr betroffen waren", wird ihm sein Schwarzsein immer mehr bewusst, Dies führte dazu, dass er sich seinen Mitmenschen "weniger verbunden fühlte statt mehr."

Es ist dies ein Phänomen, das viel verbreiterter ist, als wir gemeinhin annehmen: Ein Problem zu identifizieren, macht es in aller Regel grösser, gibt ihm zumeist eine übertriebene Bedeutung. Anwälte und Psychologinnen wissen nicht nur darum, sie haben es zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Dass diejenigen, die das Thema Race bewirtschaften, sich in erster Linie selbst damit profilieren, nun gut, das ist ihre Sache. Ob man ihnen allerdings dabei helfen soll, indem man sich mit ihnen und ihren abstrusen Ideen abgibt? Ich finde nicht, bin dabei jedoch wenig konsequent.

Obwohl Coleman Hughes das Race-Thema nicht wirklich beschäftigte, sein kulturelles Umfeld war besessen davon und so kam er gar nicht drumherum, sich ebenfalls damit zu befassen: Dabei entpuppte sich der Race-Wahn für ihn als das, was er zu bekämpfen vorgibt: Rassismus, und zwar von der engstirnigsten Sorte. Was war da zu tun? Coleman Hughes plädiert für Farbenblindheit.

Race, was ist das eigentlich? "Ein soziales Konstrukt, das von einem natürlichen Phänomen inspiriert ist." Die einschlägigen Kategorien sind also höchst willkürlich, wie der Autor an zahlreichen Beispielen zeigt. Es wäre deswegen entschieden besser, Race nicht speziell zu berücksichtigen. "Farbenblindheit zielt nicht darauf ab, dass man Race nicht mehr wahrnimmt. Das können die meisten von uns gar nicht. Farbenblindheit zielt darauf ab, Race als Grund für eine unterschiedliche Behandlung von Menschen und als Kategorie sozialpolitischer Massnahmen bewusst auszublenden."

Am Rande: Unter der Kapitelüberschrift "Racial Fusion" berichtet Tracy Novinger in "Communicating with Brazilians. When 'Yes' means 'No'":

„Recently, three years after the fact, it was discovered by chance that two babies had been switched at birth in the hospital. Each family loved the happy little boy it was raising. Despite daily news coverage and avid public interest in custody considerations, no reports remarked on the fact that one of the boys was black and was accepted at birth by white parents and that the other boy was white and was raised without question by dark-skinned parents.“

Farbenblind ist nicht nur nützlich und vielfältig informativ, sondern auch anregend. Es sei eine Ironie des Schicksals, so Coleman Hughes, "dass in den USA inzwischen die Identität des Boten statt der Inhalt der Botschaft darüber entscheidet, wie Martin Luther Kings Worte aufgefasst werden." So problematisch das auch ist, die Vorstellung, dass es um die Sache gehen müsste, ist fast ebenso problematisch, weil man dann unter anderem beim Argument landet, auch Trump habe gelegentlich Recht. Nur eben: Diese Art von politischen Anstand fordern zwar die Trumpianer, die allerdings überhaupt nicht daran denken, dem politischen Gegner Gleiches zuzugestehen. Meines Erachtens geht es immer um die Person und die Sache: Von einem Psychopathen lasse ich mir grundsätzlich nichts sagen.

Es ist so recht eigentlich ziemlich simpel: Wir Menschen sind unterschiedlich. Das liegt an diversen Faktoren, vom Geschlecht zur Kultur. Der Race-Faktor ist nicht entscheidend. Und je mehr man ihn vergisst, desto besser. Der Schauspieler Morgan Freeman auf die Frage, wie wir denn Rassismus loswerden könnten. "Indem wir aufhören, darüber zu reden. Ich höre auf, Sie einen Weissen zu nennen. Und ich bitte Sie aufzuhören, mich einen Schwarzen zu nennen " 

Die für mich schönste und inspirierendste Geschichte in diesem Buch handelt von Coleman Hughes' Grossvater, Ingenieur bei General Electric, dem von einem wohlmeinenden weissen Ingenieur geraten wurde, wegen seiner Hautfarbe keine Manager-Karriere anzustreben. Er entschloss sich dann letztendlich doch dazu und machte eine steile Karriere.

Keine Frage: Rassismus ist eine Realität. Er gehört bekämpft, wo auch immer er auftritt. Genauso wie die Neorassisten, deren starres Weltbild sie ohnehin von vorneherein disqualifiziert.

"Warum der Neorassismus grassiert" lautet eines der Kapitel. Es ist das bei weitem schwächste, denn Warum-Fragen betr. Meinungen lassen sich nun mal nicht mit unserem Ursache/Wirkung-Denken beantworten. Man kann nur rätseln, was man auch ausgiebig tut. Dass das Smartphone dazu beigetragen hat, dass sich neorassistische Ideen in letzter Zeit so rasant verbreitet haben, ist sicher richtig, doch hat dasselbe Smartphone eben auch zu ganz vielen positiven Entwicklungen beigetragen.

Ein anderes Kapitel ist mit "Vielfalt neu denken" überschrieben, worin Coleman Hughes überzeugend darlegt, dass Race-bezogene Vielfalt nicht automatisch gut bzw. schlecht bedeutet. So nützlich sie etwa bei der Polizeiarbeit ist, die mit unterschiedlichen Menschen zu tun hat, so blödsinnig ist sie bei der Feuerwehr. denn dem Feuer ist es egal, von wem es gelöscht wird.

Farbenblind ist ein Werk reich an Beispielen, die deutlich machen, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung überfällig ist, ohne Scheuklappen und die Klischees vom weissen Ausbeuter und dem schwarzen Opfer. Zu den überaus erhellenden Fakten, die Coleman Hughes präsentiert gehört auch die Tatsache, dass Amerikaner und allgemein weisse Westler die einzige Bevölkerungsgruppe der Welt sind, die wegen der Sünden ihrer Vorfahren Schuldgefühle haben, was nicht zuletzt den Race-Aktivisten zupass kommt, die auch mit dem ererbten Trauma hausieren gehen, das der Autor als Mythos entlarvt.

 Es ist paradox: Um zu verstehen, weshalb Farbenblindheit hilfreich ist, muss man begreifen, was ihr Gegenteil alles impliziert. Farbenblind liefert dazu einen vielfältig erhellenden Beitrag.

Coleman Hughes
Farbenblind
Plädoyer für eine Gesellschaft ohne Race-Politik
Edition Tiamat, Berlin 2025

Sunday, 10 August 2025

Giving the moment significance

Samuel Beckett in his local cafe in Montparnasse, Paris

'Daylight was disappearing and I thought the moment had passed' … Samuel Beckett's local cafe in Paris. Photograph: John Minihan

In 2012, in the Guardian's "My best shot"-series, there was a piece on John Minihan and one of his photographs of Samuel Beckett. In the interview, Minihan commented on this picture: "This is Samuel Beckett in a café in Paris. He set it all up. He wanted the picture to say: This is who I am." I especially warmed to this remark of Minihan: "To my mind, a 16th of a second is nothing out of someone's life." I've never understood why, for instance, a picture of somebody caught off guard should reveal something meaningful. Or why a staged photo should tell me anything other than what it is: a staged photo.

Photography is commonly understood as showing us a moment in time. This of course implies that there is such a thing as time — and that, of course, is a matter of belief. In her study Dakota. A Spiritual Geography, Kathleen Norris (1993) quotes Martin Broken Leg, a Rosebud Sioux who is an Episcopal priest, addressing an audience of Lutheran pastors on the subject of bridging the Native American/white culture gap:

"'Ghosts don't exist in some cultures,' he said, adding dismissively, 'they think time exists.'"

The concept of the meaningful moment, moreover, also implies that the moment shown should hold special significance. Here, Adam Johnson (2003) comes to mind, who (in Parasites Like Us) penned:

"I shook the podium one last time, and, before dismissing class early, admonished them: 'All life offers us is the moment. There is only the ravishing spontaneity of being, then nothing more. Moments, people — enhearten them, for they are fleeting' (...) Moments are fleeting? I sounded as dramatic and fake as the romantic poetry glued to English teachers' in-boxes. Was 'enhearten' even a word?"

Let us, for the sake of argument, assume that time exists: why is it then that moments captured by a camera should be especially meaningful? I mean: why this moment and not the one just before this moment or the one after? Can we really just pick and choose at will from the continuous flow of what we call moments and then claim that what we chose should hold special significance?

In light of the Buddhist saying that the only permanent thing is change, our desire to make moments meaningful is understandable but also slightly absurd. Life, after all, is largely a series of unpredictable events and, as Penelope Lively (2005) once put it (in Making It Up):

"... things might have gone entirely differently, when life might have spun off in some other direction."

To live moment after moment seems insufficient: we need orientation, we need meaning in order to not feel lost in this seemingly arbitrary universe. And so we do what we can and invent realities, realities that provide order, stability, give us something to do and, if all goes well, an income — just think of how bureaucracy helps bureaucrats to make a living. However, the fact that reality is constructed does not mean that things only exist in our minds (whoever suffers from toothache knows that to be very real). It only means that our mental concepts of reality are amazingly varied.

"Man is made by his belief. As he believes, so he is," says the Bhagavad Gita. Our need, and ability, to believe produces sometimes quite peculiar results. That, for instance, singling out moments, and making them visible — and this is what photography essentially is — should be, we are told by some propagandists, important and meaningful. And, it will become indeed meaningful if we decide to believe that. In other words, what we believe is a matter of choice, it is not our destiny. To quote myself:

"... we are not condemned to expect from the world what our culture has told us. The culture we grow up in is not a static entity; neither is our identity fixed once and for all. We get older, might decide to live in foreign cultures, might even acquire knowledge that teaches us that some of the things we were once taught are quite possibly wrong in themselves, not only wrong in a given context." (Hans Durrer, Ways of perception. On visual and intercultural communication. Bangkok: White Lotus Press, 2006).

Let me get back to John Minihan and Samuel Beckett. In the interview Minihan says:

"We talked until 4.50 p.m. He mesmerised me. Daylight was quickly disappearing and I thought the moment had passed. Then Sam said: 'John, would you like to take a photograph?' I got out my Rolleiflex and took three frames. They turned out better than I expected because Sam directed the whole scene. He wanted it to say: 'This is who I am.'"

Maybe, yes. More likely, I find, would be: "This is how I want to see myself."

Photographs, by giving us the impression of having made time stand still, attempt to give the moment significance. We are well advised to keep in mind what Barry Lopez (1998) had to say about this seemingly simple process (in "About This Life"):

"I realized that just as the distance between what I saw and what I was able to record was huge, so was that between what I recorded and what people saw."

2012 © Hans Durrer / Soundscapes

Wednesday, 6 August 2025

Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus

In der Einleitung nimmt Rainer Mühlhoff auch Bezug auf das Wüten von Elon Musks DOGE (Department of Government Efficiency), einer Zertrümmerungsmaschine sondergleichen, die als effizient zu bezeichnen keinem halbwegs zivilisierten Wesen einfallen würde, und führt dabei vor, was Faschismus heutzutage ausmacht: Antidemokratisches Wirken, Gewaltbereitschaft, der Einsatz von Technologie als Machtinstrument.

Grundlegend für den Umgang des Menschen mit der Welt, inklusive der KI, ist die Projektion. Als Beispiel möge der Aufmerksamkeitsjunkie im Weissen Haus gelten, der mit seinen zahlreichen Invektiven immer nur sich selber beschreibt. Anthropomorphisierung nennt der Autor das Phänomen in Bezug auf KI: alles wird vermenschlicht. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: We do not see things as they are, we see things as we are. Wobei auch gilt: "Was immer projiziert wird, kann übertrieben werden."

Man kann dieses Phänomen der Projektion nicht genug betonen, da die Sichtweise von KI wesentlich in der Persönlichkeit der sie Beurteilenden liegt. So hat der Medienwissenschaftler Evgeny Morozov von Solutionismus gesprochen. "Solutionismus beschreibt die Ideologie, die komplexe gesellschaftliche Probleme auf rein technische Herausforderungen reduziert ...". Nicht, dass dies etwas Neues wäre: Wer sich vorwiegend am Resultat orientiert, wird fast zwangsläufig den Weg dorthin ausser Acht lassen.

Rainer Mühlhoff unterscheidet symbolische und subsymbolische KI. Erstere meint maschinenlesbare Wenn-Dann-Regeln, das zentrale Merkmal subsymbolischer KI ist die Probabilität: sie liefert Aussagen über Wahrscheinlichkeiten. Wenn wir heute von KI sprechen, meinen wir meist subsymbolische KI-Systeme, die auf riesigen Datenmengen basieren.

Den Rechtsstaat kennzeichnet nicht zuletzt, "dass Verfahren rechtmässig und fair ablaufen müssen." Dies (Was ist schon fair?) ist bereits ohne KI nicht leicht zu bewerkstelligen: mit KI ist jedoch der sogenannte Bürokratieabbau weit willkürlicher, da etwa auf individuelle Besonderheiten schlicht nicht Rücksicht genommen werden kann.

Am Rande: So differenziert der Autor in Sachen KI argumentiert, hinsichtlich des Rechtsstaats und der Demokratie ist das weit weniger der Fall. Beides sind meines Erachtens bestenfalls idealistische Zielvorstellungen, doch keineswegs Realität, da im Kapitalismus das Geld und nicht etwa das Volk herrscht.

"Der KI-Hype im öffentlichen Diskurs" lautet einer der Titel, der mit dem Satz "Seit dem Durchbruch von Deep Learning in den 2010er Jahren ist KI ein Containerbegriff mit gewaltigem Marketingpotential geworden." sehr schön zusammenfasst, was unsere Zeit wesentlich ausmacht: Hauptsache, es lässt sich verkaufen.

Rainer Mühlhoff ist Professor für Ethik und kritische Theorien der Künstlichen Intelligenz an der Universität Osnabrück und so kann es nicht ausbleiben, dass er sich auch ausführlich mit den Ideologien hinter dem KI-Hype auseinandersetzt, die von einem Menschenbild geprägt sind, das mir persönlich fremder nicht sein könnte. Ich wähnte mich gelegentlich in einem Science Fiction.

Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit Ideen und Konzepten, die mir gelegentlich aus der Zeit gefallen vorgekommen ist, etwa wenn auf die begriffliche Unterscheidung von agonistischen und antagonistischen Konflikten der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe hingewiesen wird. Bei der agonistischen Variante streitet man zivilisiert auf der Grundlage demokratischer Prinzipien, bei der antagonistischen Variante ist die Vernichtung des Gegners das Ziel. In meiner Wahrnehmung ist die antagonistische Variante schon längst Realität.

Rainer Mühlhoff plädiert dafür, antidemokratische Kräfte zu isolieren. Und anders über KI-Technologie zu sprechen, also die wirklich wesentlichen Fragen zu stellen, als da wären: "Wer profitiert? Wer profitiert nicht? Wer wird nicht einmal mehr angehört bzw. fällt von vorneherein aus dem Raster?"

Fazit: Erhellende, hilfreiche Aufklärung.

Rainer Mühlhoff
Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 3 August 2025

Die acht Leben der Frau Mook

Im Pflegeheim Golden Sunset wird den Bewohnern angeboten, ihre Nachrufe zu schreiben. Unter ihnen ist auch Frau Mook, deren Lebensgeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst. Selbstbewusst, clever, verschmitzt, verfügt sie über vielfältige Kenntnisse und eine Lebenshaltung, die geprägt ist von ihrem ungebildeten Vater und ihrer sehr gebildeten Mutter.

An der nordkoreanischen Grenze tritt sie auf eine Mine und wird von einer Geisterjungfrau gerettet, die verdächtigt wird, aus dem Norden zu stammen. In Heoguri, einem kleinen Bauerndorf bei Pjöngjang, nimmt sie mit ihrer Mutter zusammen bei einem Pastor Englischstunden. Grossartig, wie dieser 'lockige Rotschopf' geschildert wird, der die Kleine auch für Shakespeare zu begeistern wusste, "weil er seine Dramen immer mit Liebe, Tod und Verrat aufmöbelte, zum Beispiel in Romeo und Julia und Othello."

Grossartig auch, wie die Mutter der Tochter erklärt, warum Sprache wichtig ist. "Worte sind nicht nur Worte, mein Schatz. Sie sind viel mehr als ein einfaches Werkzeug, um deine Absichten zu vermitteln. Worte können deine Art zu denken beeinflussen, und du kannst dank ihnen beeinflussen, wie andere denken. Das ist niemals eine Einbahnstrasse."

Anfang der 1950er Jahre. Der Koreakrieg. Mit Hunderten von Menschen flüchtet sie auf Güterwagen in den Süden, wo sie sich als Junge ausgibt und als inoffizieller Leiter und Übersetzer in einem sogenannten Trosthaus angestellt wird, wo Frauen als "den für die Yankees reservierten Kriegsproviant" gefangen gehalten wurden. Unter den Mädchen war auch die ungemein begabte Geschichten-Erzählerin Yongmal, die einst einer arrangierten Heirat entfliehen wollte, die sie in der Folge zu schätzen begann. 

Diese Ehe wird auch aus der Sicht des Ehemanns geschildert. Sehr berührend und dabei deutlich machend, wie unsere Vorstellungen von der Realität korrigiert werden, auch wenn diese nicht wirklich greifbar ist. Was hat wirklich stattgefunden, was ist imaginiert? Man weiss es nicht so recht, es bleibt in der Schwebe. Und nicht zuletzt dies macht den Reiz dieses Romans aus. Nein, nicht nur, es ist auch der Ton, der Rhythmus, die Unverblümtheit, die Frische, die diesen Text zur einer packenden Lektüre machen.

"Gutes Kino kann dich mühelos an einen anderen Ort und in eine andere Zeit befördern", sagt ihr Mann mit einem wehmütigen Seufzen. "Wie traurig dass die Partei heutzutage jeden Film in ihr politisches Schema presst." Auch Die acht Leben der Frau Mook befördert uns an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Und passt in kein vorgefertigtes Schema.

"Yongmal und ich ähnelten uns in vielem. Wir seien beide klug und stur, sagten sie. Wir weigerten uns, vor den Trosträubern Tränen zu zeigen. Wir sahen sogar ähnlich aus: etwa gleich gross und schwer, mit hohen Wangenknochen und leicht eckigem Kinn, das die Männer auffallend und abschreckend fanden."
Das Schicksal der Mädchen im Bordell ist brutal, einige sterben, unter ihnen auch Yongmal.

Als dann jedoch Frau Choi ihre Geschichte erzählt, sie sei eine Hochstaplerin, keine Spionin, sagte sie, erwähnt sie auch, dass sie zusammen mit Yongmal und vielen anderen koreanischen Mädchen als Trostfrauen zum Militärstützpunkt der kaiserlichen japanischen Armee nach Semaran in Indonesien verschleppt worden sei. Mit anderen Worten: Es ist ein ziemliches Verwirrspiel, dass die Autorin hier vorführt. Und zwar ausgesprochen gekonnt.

Der Koreakrieg endet mit der Teilung des Landes. 'Das Arbeiterparadies auf Erden' beflügelte damals die Menschen im Norden, die sich dann schnell ans gegenseitige Belauschen gewöhnten, dieses Kontrollinstrument kommunistischer Herrschaft weltweit. Kinder werden regelrecht abgerichtet; sie sollen bei Hinrichtungen dabei sein. Man lernt zu tun als ob. "Die Lektion im Weinen erwies sich als nützlich, vor allem später, als der Oberste Führer, den die Menschen stillschweigend für unsterblich gehalten hatten, starb."  

Die acht Leben der Frau Mook ist clever, imaginativ, witzig und reich an vielfältigen Lebensweisheiten. "Aimé Adel hat einmal gesagt, die Ehe sei eine Reise vom Aussergewöhnlichen zum Gewöhnlichen. ein stetes, tropfenweises Erkennen, dass das, was du einst für so besonders gehalten hast, nichts weiter als Mittelmass ist." Auch wenn man meist nicht so recht weiss, ob das wirklich so gewesen sein kann, ist vieles in diesem Roman wirklich passiert, wie die Autorin schreibt.

Mirinae Lee
Die acht Leben der Frau Mook
Unionsverlag, Zürich 2025