Wednesday, 21 May 2025

1000 Sprachen - 1000 Welten

Zu den Fragen, die auch ausserhalb der Linguistik grosse Aufmerksamkeit geniessen, gehört, ob die Eskimos, wie einst in der New York Times behauptet wurde, wirklich über 70 Wörter für Schnee verfügten. Tun sie nicht, das ist widerlegt, was viele natürlich nicht hindert, diese Mär auch weiterhin zu verbreiten, denn, so der Linguist Geoff Pullum, wenn der Mensch sich einmal entschieden hat, etwas plausibel zu finden, ist er nur schwer wieder davon abzubringen. Was bei dieser Debatte jedoch übersehen wurde, meint Caleb Everett: "Sprachen spiegeln in der Regel die Umgebung wider, in der sie sich entwickeln."

Dieses Buch "soll einige besonders interessante Forschungsschwerpunkte von Psychologen, Linguisten, Anthropologen und anderen Forschern vorstellen, die unser Verständnis der menschlichen Sprache und des damit zusammenhängenden Denkens und Verhaltens formen." Caleb Everett tritt damit in die Fussstapfen seines Vaters, Daniel Everett, der aufgrund seiner Forschungen im brasilianischen Amazonasgebiet zur Auffassung kam, dass auch unser kultureller Lebensstil sich auf unser Denken auswirkt.

Vorauszuschicken ist dies: In der Linguistik gibt es die Anhänger/Vertreter sprachlicher Universalien, was meint, dass alle Sprachen der Welt grundlegende Merkmale teilen. Und dann gibt es die Relativisten, die davon ausgehen, dass die Sprache, die wir sprechen, unser Denken und unsere Wahrnehmung prägt. Ich selber tendiere zu den Universalien, Caleb Everett zum Sprachrelativismus. Doch wie so viele Rätsel, die wir mittels (erfundener) Fachdisziplinen zu beantworten suchen, liegen die Antworten, die wir finden (wollen), vermutlich in unserer Grundeinstellung: Die eher Schicksalsgläubigen werden vermutlich zum Universalismus neigen, diejenigen, die glauben, es liege an ihnen bzw. in ihrer Verantwortung/Macht, wie sie leben wollen, ziehen womöglich den Relativismus vor.

Wer davon ausgeht, dass die Menschen weltweit sich nicht wesentlich unterscheiden (sollen), wird den Universalien den Vorzug geben, wer eher an die Unterschiede glaubt, wird diese Unterschiede auch finden. 1000 Sprachen - 1000 Welten ist überaus reich an Beispielen ferner Populationen, die andere Vorstellungen vom Leben haben als der in Städten ansässige, moderne Mensch. Das ist interessant und anregend, doch ist es auch relevant bzw. macht es einen Unterschied in unserem Leben? Sicher, falls wir offen dafür sind, denn die Dinge neu bzw. anders zu sehen (das ist es, was die verschiedenen Sprachen uns zeigen), verändert die Perspektive und möglicherweise auch das Verhalten.

Da wäre einmal die Zeit, von der Caleb Everett ausgeht, dass es sie gibt. Die Rosebud Sioux in Süddakota glauben das nicht, dafür glauben sie an Geister. Doch dies nur am Rande. Verschiedene Völker drücken die Zeit verschieden aus, so Everett, aber erfahren sie sie auch anders? "Das soll nicht heissen, dass es keine universellen Komponenten in der Art und Weise gibt, wie Menschen Zeit erleben. Wir alle sind Homo sapiens mit Biorhythmen und der Fähigkeit, zeitliche Abläufe und natürliche Zyklen wie Tag und Nacht wahrzunehmen. Dennoch kann man immer klarer auf die sehr unterschiedlichen Arten und Weisen hinweisen, in denen Menschen Zeit begrifflich fassen und beschreiben." 

Und dann wäre da das räumliche Denken, von dem die Forscher zumeist annehmen, es sei "von Natur aus egozentrisch und anthropomorph geprägt" und erlaube uns deshalb, den Raum zu begreifen. Feldforscher kamen aufgrund von Studien, die mit indigenen Gruppen durchgeführt wurden, zum Schluss, dass  die Sprache "einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tief verwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten. Diese Behauptung ist nach wie vor umstritten, obwohl selbst Skeptiker inzwischen allgemein anerkennen, dass die Sprache eine gewisse Rolle bei der Gestaltung der räumlichen Standardstrategien der Menschen spielt."

Kennzeichnend für dieses Buch ist unter anderem, dass es vor eindeutigen Aussagen zurückschreckt. Das ist typisch für Akademiker, die sich damit vorbeugend gegen etwaige Einwände wappnen. "... haben wir einige indirekte Möglichkeiten gesehen, wie Umweltfaktoren möglicherweise die Sprache beeinflussen können." Auch zeigen die ehrerbietigen Zuschreibungen wie "Harvard-Anthropologe" oder "Harvard-Linguist" ein von Eitelkeit geprägtes Hierarchie-Denken, das ich zwar peinlich, doch auch aufschlussreich finde. 

Ganz besonders interessant ist das Kapitel "Wie wir Sätze wirklich konstruieren", worin der Autor unter anderem darauf hinweist, wie wesentlich das Verständnis von Redewendungen für das Erlernen einer Sprache ist. So ist etwa "Meinem Sohn gingen die Pferde durch" nur verständlich, wenn man die Bedeutung dieser Aussage kennt, da einfach die Worte zu übersetzen keinen Sinn ergibt. Gleiches gilt für "Ich stehe auf Sushi". Oder "Für etwas geradestehen."

1000 Sprachen - 1000 Welten vermittelt grundlegendes linguistisches Wissen. Das geht von "Einer der zentralen Grundsätze der modernen Linguistik ist, dass Sprache überwiegend willkürlich ist." zu "Tatsächlich bleibt die Frage in den Sprachwissenschaften weiterhin ein Rätsel, wie Kinder angesichts der Komplexität der Aufgabe überhaupt Sprache erwerben". Die Zusammenstellung neuerer Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgenommen wird, liefert Hinweise auf Zusammenhänge, die nicht nur faszinieren, sondern auch überraschen.

Caleb Everett
1000 Sprachen - 1000 Welten
Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt
Westend, Neu-Isenburg 2025

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