Meine eigene Erfahrung mit Yoga beschränkt sich auf die halbherzige Teilnahme an einem Kurs vor fünfzehn Jahren im walisischen Cardiff. Ich erinnere mich nur an ein paar Verrenkungen und dass mich das Ganze eher an Gymnastik, denn an Spirituelles gemahnte.
Von einem "Pfad der Vereinigung", wie die Einleitung zu Michael O'Neills Über Yoga - Die Architektur des Friedens überschrieben ist, merkte ich damals nichts. Laut Swami Chidanand Saraswatiji, von dem diese Einleitung stammt, geht es im Yoga ums "Einswerden von Atem und Körper, von Geist und Muskeln, von Körper, Seele und Geist, und letztlich von Schöpfung und Schöpfer."
Er empfiehlt, sich den prächtigen Fotos in diesem Band mit folgender Einstellung zu nähern:
"Wenn wir uns ins Betrachten dieses Buches mit derselben Andacht vertiefen, mit der wir das Tor eines Tempels oder einer Kathedrale öffnen, und mit unseren drei Augen sehen – mit den beiden physischen und mit unserem inneren Auge – werden wir nicht nur faszinierend schöne Bilder sehen, sondern auch wahres Yoga."
Himmel und Erde begegnen sich
Ladakh, 1. März 2010
Das obige Bild wird von diesem Text begleitet:
"Für mich liegt hier im tibetischen
Hochland, zwischen Himmel und Erde, in dieser
spirituellen Lage, die Glückseligkeit. Die höchste
Form der Meditation in der grössten Höhe
bot das perfekte Motiv, um die Loslösung des
Geistes während der Meditation im Bild zu
erklären. Es ist der Ort, an dem das Fassliche
aufhört zu sein und reinem Bewusstsein weicht.
Wie Swami Chidanand so treffend sagte:
'Grössere Höhe, höhere Gesinnung und höhere
Dankbarkeit.' Als endliche Formen gelangen
wir so nahe ans Unendliche."
Ehrwürdige Wurzeln, Uddiyana
(Reinigung durch das Hochziehen der Bauchdeckel)
Swami Yogananda, Rishikesh, 9. März 2009
Schwebender Lotus, Kalaripayattu-Kämpfer, Yogaschlaf sind ein paar beliebig ausgewählte Bezeichnungen hinter denen sich artistische Meisterleistungen verbergen, doch beim Yoga, geht es nicht um Spektakuläres, sondern um den Wesenskern des Seins. Warum dies mit Fotografien, die höchst aussergewöhnliche Körperhaltungen zelebrieren, illustriert wird, entzieht sich mir. Andrerseits machen solche Aufnahmen aber eben auch den Kontrast zu den wenig spektakulären Porträts von im Sitzen Meditierenden, die durch ihre Ausstrahlung beeindrucken, sichtbarer. Mein Lieblingsbild zeigt den Dalai Lama, versunken im Augenblick.
"Seit seinen frühesten Anfängen vor 5000 Jahren galt Yoga nicht als Kunst oder Übung oder Religion, sondern als Wissenschaft, als Vidya, da es von Anbeginn mit strenger Untersuchung und Erprobung verbunden war. Wer die Wissenschaft des Yoga praktiziert, kann zu einer direkten Erfahrung, einer direkten Wahrnehmung seiner selbst gelangen, die jeder Überprüfung standhält", schreibt Eddie Stern, den Michael O'Neill in der "Haltung des Weisen Bhagiratha" im Schneetreiben der Crosby Street in New York City abgelichtet hat.
Natarajasana (Haltung des Tänzers)
Shiva Rea, El Mirage Lake, Kalifornien, 25. Oktober 2006
Den besten Grund, Yoga zu praktizieren, liefert der Fotograf Michael O'Neill gleich selber. Nach einer Operation war sein rechter Arm gelähmt. Anstatt sich damit abzufinden, begann er zu meditieren – "ich lernte, ganz für mich alleine dazusitzen und die Angst zu beschwichtigen." Zudem arbeitete er mit einem Hydrotherapeuten und einem Meditationslehrer. "Gegen Ende des ersten Jahres hatten sich genau die Nerven, die die Mediziner für abgestorben erklärt hatten, fast vollständig regeneriert, und mein Arm war wieder einsatzfähig. Yoga und Meditation waren für mein Leben unabdingbar geworden."
Für Michael O'Neill gibt es zwischen Yoga und Fotografie Gemeinsamkeiten. "Beides verlangt Unvoreingenommenheit, um sehen zu können, was wirklich da ist. Beides erfordert Geduld und belohnt Übung. Beides ist insofern Meditation, als man davon voll und ganz in Anspruch genommen wird. Wenn man sich in diesem Moment, in diesem Fluss befindet, existiert nichts anderes mehr. Das bewahrheitet sich ganz besonders in der Dunkelkammer – in der mutterleibsartigen Umgebung und dem leisen, beständigen Rauschen des Wassers liegt ein Fluss, eine Alchimie. Die eigene Schöpfung wird durch eine Flüssigkeit auf Papier zum Leben erweckt. Es ist Zauberei. Man taucht mit den Händen in die transformierende Flüssigkeit ein, wie man mit seinem Körper ins transformierende Wasser des Ganges, der Mutter des Lebens, eintaucht ...".
Michael O'Neill
Über Yoga. Die Architektur des Friedens
Taschen, Köln 2015
No comments:
Post a Comment