Sunday, 14 December 2025

Im Spiegel des Kosmos

Es geschieht selten, sehr, sehr selten, also eigentlich nie, dass ich wegen eines Zitats, das einem Buch vorangestellt ist, in regelrechte Begeisterungsstürme ausbreche. Die Ausnahme ist dieses Zitat hier, es stammt von Edgar D. Mitchell, Astronaut der Apollo 14: „Von dort draussen, vom Mond aus betrachtet wirkt die Weltpolitik so lächerlich kleinlich. Am liebsten möchte man einen Politiker am Schlafittchen packen, ihn eine Viertelmillion Meilen hinaus ins Weltall zerren und zu ihm sagen: „Schau dir das an, du kleiner Mistkerl."

Der US-amerikanische Astrophysiker Neil deGrasse Tyson, geboren 1958 in New York City, weist in seinem Vorwort auf „zwei rasche Lehren aus diesem Buch“ hin: „1) Das menschliche Auge reicht nicht aus, um die fundamentalen Wahrheiten über die Abläufe in der Natur zu enthüllen. 2) Die Erde ist nicht der Mittelpunkt aller Bewegung. Sie kreist um die Sonne, als lediglich einer unter mehreren anderen bekannten Planeten.“ Das wissen wir doch, werden vermutlich die meisten denken. Schon, aber eben nur in der Theorie, denn in der Praxis lassen wir uns von dem leiten, was wir sehen und in unserem Erleben dreht sich die Welt um uns. Und genau deswegen ist Im Spiegel des Kosmos so überaus nützlich – „als Fundgrube von Einsichten, informiert durch das Universum und vermittelt mit den Methoden und Werkzeugen der Wissenschaft.“ Übrigens: „Objektive wissenschaftliche Wahrheiten fussen nicht auf Glaubenssystemen“, sie gründen auf Experimenten, können also nachgewiesen werden.

Mit „Wahrheit & Schönheit. Ästhetik im Leben und im Kosmos“ überschreibt Neil deGrasse Tyson das erste Kapitel. Und diese Formulierung is so recht eigentlich ein Geniestreich, denn Schönheit ist in der Tat Wahrheit, das behauptet er nicht nur, das führt er an Beispielen vor. „In unserem Sonnensystem haben wir Kometen und Planeten und Asteroiden und Monde, und sie alle präsentieren sich dem Auge in umwerfend einziger Form und Gestalt. Zu vielen dieser Objekte haben wir detaillierte und objektiv wahre Kenntnisse angesammelt, woraus sie bestehen, wo sie herkommen und wohin sie unterwegs sind. Derweil drehen und bewegen sie sich auf ihren zugewiesenen Pfaden durch das Vakuum des Weltalls, wie Pirouetten drehende Tänzer in einem kosmischen Ballett, und mit den Gravitationskräften als Choreograph.“ Wunderbar!

Im Spiegel des Kosmos ist ein ungemein hilfreiches Buch, da es einen Perspektivenwechsel vornimmt: Nicht unser Ach-so-delikates-Ego wird gehätschelt, sondern unser Dasein im Kosmos wird uns vor Augen geführt. „Für mich persönlich als Wissenschaftler und als Erdenbewohner ist vielleicht das Schönste am Universum, dass wir überhaupt etwas darüber wissen können.“ Man sollte sich Zeit nehmen für diesen Satz, ihn wirken lassen und zu begreifen bereit sein, dass nichts, absolut gar nichts, selbstverständlich ist. Oder uns zusteht. Oder gar verdient wäre ...

Es liegt an unserem Lebenstrieb, dass wir an der Idee, das Ego sei Realität, festhalten. Obwohl wir wissen (können), dass es dieses Ego gar nicht geben kann, denn schliesslich ist alles in stetiger Veränderung begriffen. Diese Vorstellung eines Ego führt übrigens auch zur Astrologie, die lehrt, „dass Sonne, Mond, Planeten und Sterne sich ganz persönlich auf uns auswirken“ ... Dazu Neil deGrasse Tyson: „Kenntnisse über das Universum im Allgemeinen – und kosmische Perspektiven im Besonderen – helfen uns zugleich unser Ego von allem zu lösen, was am Himmel passiert, und dabei selbst die Verantwortung für unser eigenes Tun zu übernehmen.“

Dass wir so wenig fähig sind, das Wunder des Lebens, unserer Existenz, des Universums zu sehen, wirklich zu sehen, liegt grösstenteils an unserem Denken, das linear unterwegs ist. Doch: „Wissen wächst nicht linear, sondern exponentiell, deshalb ist jeder Versuch unseres Gehirns hoffnungslos, die Zukunft allein auf Grundlage der Vergangenheit vorherzusagen.“

Im Spiegel des Kosmos liest sich über weite Strecken als Plädoyer für die Wissenschaft und das meint: Verstehen zu wollen, wie die Dinge wirklich sind. Als zu Beginn von Corona viele sich berufen fühlten, ihre Meinung kundzutun – Politiker, Geschäftsleute und andere Ideologen – , waren Wissenschaftler die Einzigen, auf die ich bereit war, zu hören. Nicht, weil sie immer recht hatten, doch weil sie, sofern sie ernsthaft unterwegs waren, bereit waren, sich an Überprüfbarem zu orientieren.

„Die ganze Mission im Leben eines Wissenschaftlers besteht darin, die wahren Merkmale und Eigenschaften der Natur herauszufinden, selbst wenn sie im Widerspruch zu den eigenen philosophischen Überzeugungen stehen. Genau deshalb werden Sie niemals Bataillone von Astrophysikern bei der Erstürmung eines Hügels beobachten können.“ Wir wären gut beraten, uns die Geisteshaltung hinter dieser Mission anzueignen. Argumente dazu liefert dieses Buch zuhauf.

Im Spiegel des Kosmos führt eindrücklich, anregend und überzeugend vor, wie wir unseren Verstand zum Wohle von uns allen nutzen können.

Neil deGrasse Tyson
Im Spiegel des Kosmos
Perspektiven auf die Menschheit
Klett-Cotta, Stuttgart 2024

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