Wednesday 3 May 2023

Über Dorothea Lange

Als ich vor mehr als zwanzig Jahren eine Magisterarbeit über Dokumentarfotografie schrieb, gehörte Dorothea Lange zu den Fotografinnen, die mich beeindruckten. Vor allem geblieben ist mir ihr Satz, dass die Kamera sie das Sehen gelehrt habe, eine Aussage, die ihre Biografin Jasmin Darznik im vorliegenden Buch sehr schön ergänzt. "Will man ein wahrhaft gutes Bild von etwas machen, muss man es wirklich sehen, nicht nur anschauen. Ich habe einmal gesagt, dass die Kamera ein guter Lehrmeister ist, aber manchmal steht sie einem auch im Weg."

Von Dorothea Lange weiss ich kaum mehr als dass sie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, speziell wegen ihres Porträts 'Migrant Mother', zu einiger Berühmtheit gelangte. Ich wusste hingegen nicht, dass sie wegen Kinderlähmung hinkte oder dass sie in San Francisco ein gutgehendes Fotostudio betrieb, bis dann im Herbst 2018 sich die Spanische Grippe in der Stadt verbreitete. Die Menschen reagierten darauf, wie wir es von Covid-19 kennen. "Zuerst gab es keine Regeln, dann plötzlich sehr viele, die sich noch dazu ständig änderten."

Doch ist das eigentlich eine Biografie? Jasmin Darznik erzählt das Leben Dorothea Langes in der Ich-Form, was mich einerseits befremdlich dünkt, doch andererseits auch wieder nicht, denn so verschieden voneinander sind wir nun einmal nicht, was wir vor allem dann herausfinden, wenn wir uns intensiv mit einer Person beschäftigen, die uns aus dem einen oder anderen Grund fasziniert. "So wie jedes Porträt ein Selbstporträt ist, ist jeder historische Roman auch ein zeitgenössischer Roman", schreibt die Autorin im Epilog.

Eindrücklich ist Dorotheas Ankunft im Mai 1918 in San Francisco geschildert. "Ich hatte erwartet, dass Kalifornien ein Sonnenparadies sei, aber es war hier um einiges kälter als in New York." Das Geld wird ihr geklaut, nunmehr mittellos muss sie sich zurecht finden. Caroline Lee, eine clevere Orientalin, kommt ihr zu Hilfe – vom damaligen Rassismus einiger Amerikaner gegenüber Chinesen, erfahre ich zum ersten Mal. Gleichzeitig war übrigens der Japonismus in Mode. Mit Logik lässt sich der Mensch wahrlich nicht erfassen!

Die 23jährige Dorothea findet eine Anstellung in einem Fotoladen, wo sie auch auf Aufnahmen von Imogen Cunningham stösst, die sie begeistern. Und sie lernt, dass der Schutz eines Hutes ihr ungeahnte Möglichkeiten beschert. "Ich trug ihn tief in die Stirn gezogen, sodass er meine Augen und die halbe Nase beschirmte. Jetzt konnte ich durch die Strassen spazieren, ohne dass mich jemand beachtete, stellte ich erstaunt fest."

Dann lernt sie Imogen Cunningham und ihren Schützling Ansel Adams kennen. "Imogen war eine begnadete Lehrerin – grosszügig, geduldig und von bedingungsloser Ehrlichkeit." Jasmin Darznikt macht einen auch mit unterschiedlichen Aspekten der Fotografie vertraut wie etwa der Geduld, die die Porträtfotografie erfordert oder mit Dorothea Langes Fotografie-Verständnis. "Alles ist es wert, betrachtet zu werden, man muss nur einen klaren Blick darauf werfen können." Und: "Die Menschen sind dankbar für ehrliche Aufmerksamkeit. Sie belohnen einen, indem sie den Blick erwidern."

Was wir sahen, was wir träumten ist ein Zeitdokument, das auch darüber aufklärt, dass viele Leute zunächst froh waren, dass das Erdbeben von 1906 auch Chinatown zerstört hatte, dann aber entdeckten, dass man es mittels Kitschbauten im orientalischen Stil zu einer Touristen-Attraktion machen konnte. Und man lernt auch Erhellendes über die Medien. "Wenn ich eines durch meine Arbeit bei der Zeitung gelernt habe, dann dass man das, was darin steht, nicht mit dem verwechseln darf, was tatsächlich geschieht. In Wahrheit sollen wir nicht über die Spanische Grippe berichten. Das sei schlecht für die Moral in Kriegszeiten, hiess es."

Ansel Adams hatte die Spanische Grippe heftig erwischt. "Ansel war immer so geistreich und energiegeladen gewesen. Nie hatte er ruhig und schweigend dagesessen, und jetzt war er völlig teilnahmslos und verkrampft. Das machte die Spanische Grippe. Sie erwischte die Jungen und Gesunden am schlimmsten." Als er schliesslich genas, war er ein anderer Mensch, "für den Rest seines Lebens wollte er nur noch Berge, Bäche und Flüsse fotografieren."

Neben der eindrücklichen Schilderung von Landschaften, versteht sich Jasmin Darznik hervorragend, so wie ihre Protagonistin, auf Porträts. So notiert sie etwa über Caroline Lee: "Wenn man sie so sah, dachte man, dass sie mutig und stark war, und das war sie auch. Alles andere, was sie auch noch war, verbarg sie in diesem Moment." Und über Dorotheas Beziehung zum fast doppelt so alten Maler Maynard Dixon hält sie fest: "Und das war der grundlegende Unterschied zwischen uns. Er lebte in einem Tempel, den er Kunst nannte. Ich konnte nie woanders als in der Welt leben."

Zum Verblüffendsten an diesem sehr gut geschriebenen historischen Roman gehört für mich, dass ich mich nicht nur vor Ort, sondern darüber hinaus in der Gegenwart wähnte – als ob sich menschliches Verhalten nicht ändern würde. "Immer wieder begegnete ich der Gegenwart, wenn ich in die Vergangenheit abtauchte", erfährt man im Epilog.

Fazit: Ein einfühlsames, bewegendes Porträt sowie herausragende Geschichtsschreibung.

Jasmin Darznik
Was wir sahen, was wir träumten
C. Bertelsmann, München 2022

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