Sunday, 27 October 2024

Das vergessene Schtetl

Bereits bei den ersten Seiten muss ich dauernd loslachen, ob dem Witz, der Ironie und der Scharfsinnigkeit dieses Textes. Schon der erste Satz, "Auch in einer unbeschwerten, friedlichen Stadt wie der unseren ist es möglich, jemanden zu finden, dem man nie wieder begegnen will", tut, was erste Sätze, so sie denn gelungen sind, tun sollen: man will sofort wissen wie es weitergeht. Und natürlich lernt man dann sehr schnell, dass es mit der unbeschwerten friedlichen Stadt so weit her nun auch nicht ist, denn in Kreskol, im polnischen Urwald, sind die Sitten auch nicht anders als in anderen Städten, wo Neid und Geiz herrschen.

Pescha Rosenthal, Ismael Lindauer und Jankel Lewinkopf sind verschwunden. Als eines Tages ein eiserner Streitwagen am Himmel auftauchte, an Bord ein Goi und Jankel Lewinkopf, der heraussprang und dem Rabbi eröffnete. "Dieser Mann ist nicht der Messias. Das Ende der Tage ist bereits gekommen und wieder gegangen. Wir haben es verpasst.", weiss der Leser (ob Mann oder Frau), dass es sich bei Das vergessene Schtetl um einen aberwitzigen und an Überraschungen reichen Roman handelt, der, das gehört unverzüglich nachgeschoben, gleichzeitig höchst realistisch ist, denn nur in der grandiosesten Überzeichnung lässt sich das Gebaren der Menschen so in etwa fassen.

Doch von Anfang an:
Jankel Lewinkof, der Sohn von Deborah, "in einem Grab ausserhalb der Stadt beigesetzt, wo die Bastarde, Huren und Diebe von Kreskol begraben wurden", wächst bei Verwandten auf, wo er sich dauernd versucht, nützlich zu machen. "Dennoch war Jankel nicht gerade beliebt. Die Menschen in Kreskol waren nicht kultiviert genug, um ihr angeborenes Misstrauen gegenüber einem Mamser zu überwinden. Und doch hatte er sich einen Platz in unserer Stadt erarbeitet. Er wurde nicht völlig akzeptiert, aber er wurde auch nicht verachtet."

Eines Tages wird Jankel von Rabbi Katznelson aufgefordert, sich auf die Suche nach Pescha Rosenthal und Ismael Lindauer zu machen. Da Jankel noch nie aus dem vollkommen abgeschotteten Kreskol herausgekommen ist, führt dies zu seiner ersten Begegnung mit der Zivilisation, und zwar in Gestalt der Stadt Smolskie, über die er sich einerseits ohne Unterlass wundert, auf die er andererseits jedoch so gelassen reagiert, wie es seinem Temperament (er nahm einfach an, was ihm zustiess.) entspricht.

Er wird von einem Auto angefahren, landet im Spital, dann in der Psychiatrie. Die  Ärzte versuchen erfolglos aus ihm schlau zu werden, weisen ihn darauf hin, dass es einen Ort namens Kreskol nicht gebe, prüfen sein Wissen über die Zeitgeschichte. Der derzeitige republikanische Bewerber für die Präsidentschaft der USA würde sich wohl nicht schlecht wundern, dass Jankel noch nie von ihm gehört hatte!

Die Psychiater recherchieren über Kreskol im Internet, doch da sie auf Google nicht fündig werden, sind sie sich gewiss, dass der Mann ein Psychotiker sein bzw. unter Wahnvorstellungen leiden muss. Nein, nein, erläutert ihnen der beigezogene Hypnotiseur. Das sind keine Wahnvorstellungen, er erzählt die Wahrheit, denn natürlich sei es möglich, dass Kreskol von den Nazis übersehen worden sei. Einige Ärzte wähnen sich dem Wahnsinn nahe.

Vom Telefon und noch vielem anderen, erfährt Jankel. Er ist begeistert. Doch sollte man ihn nicht auch über den Holocaust aufklären? Dr. Fischbein wird damit beauftragt. Als er geendet hat, sagt Jankel: "Ich will nicht respektlos sein, Dr. Fischbein, aber für wie dumm haltet ihr mich eigentlich?" Nein, das ist nicht das Ende der Geschichte, nur das Ende von Jankels Aufenthalt in der Psychiatrie, der aus Kostengründen (was wäre für unsere Zeit charakteristischer als die Diktatur der Kosten?) entlassen werden soll. Dann nimmt die Geschichte eine unverhoffte Wende ... .

  So recht eigentlich unternimmt Das vergessene Schtetl den Versuch, Juden, die nichts vom Zwanzigsten Jahrhundert mitgekriegt haben, zu erklären, was da alles vorgefallen ist. "Der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, die Gründung des Staates Israel, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums; ein Mann auf dem Mond, die Ausrottung der Kinderlähmung, die Erfindung des Instant-Kaffeepulvers (auch wenn normaler Kaffee hierzulande sowieso ein unbekanntes Gut war.)." Was ist ihnen zumutbar, was nicht? Wie im richtigen Leben gehen die Meinungen weit auseinander. Das ist unterhaltsamste Aufklärung vom Feinsten, die auch überzeugend vermittelt, dass wir vom emotionalen Begreifen von so ziemlich allem weit entfernt sind.

Als die Politik in Warschau erfährt, dass es Kreskol wirklich gibt, wird die Stadt eingenommen. "... eine ganze Reihe Reporter, Fotografen und Kameraleute, die .(..) auf uns zustürmten, als wären sie Stiere, die einen Matador angreifen." Kein Wunder, sehen die Einheimischen dieser fremden Übernahme mit gemischten Gefühlen gegenüber. 

Kann es wirklich sein, dass die Nazis Kreskol übersehen haben (der renommierte Historiker Berlinsky hält dies für unmöglich), dass niemand in Kreskol von den Gräueltaten der Nazis gewusst hat (zumindest Leonid Spektor ist über Kreskol hinausgekommen und auch die Roma wissen einiges). Doch die Bewohner von Kreskol können und wollen diese Realität, die sie sich nicht vorstellen mögen, nicht wahrhaben.

Es ist eine überaus vielschichtige Geschichte, die dieser Roman erzählt. So landet Jankel in Warschau, wo er auf Pescha trifft und die beiden sich ineinander verlieben, fällt Kreskol in die Hände der Bürokraten, ruiniert die Ökonomie wieder einmal alles. Über allem hängt jedoch die Frage, ob dem Menschen die Wahrheit zumutbar ist. Eher nicht ...

Verfasst wurde dieses ungewöhnliche Lesevergnügen von Max Gross, Chefredakteur des Commercial Observer; die überaus gelungene Übersetzung stammt von Daniel Beskos, unter anderem Mitbegründer des Hamburger mairisch Verlags.

Fazit: Grossartig! Packend, reich an überraschenden Wendungen und sehr lustig.

Max Gross
Das vergessenen Schtetl
Roman
Katapult Verlag, Greifswald 2024

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