Wednesday, 30 October 2024

Niemandsland

Adwin de Kluyver, 1968 geboren, war von klein auf vom hohen Norden fasziniert, der sich grundlegend vom Süden unterscheidet. So wohnen im Norden rund um den 60. Breitengrad viele Menschen, im Süden jedoch liegen um den 60. Breitengrad nur unbewohnte Inseln. Er geht in den Süden, also dahin, wo er eigentlich gar nicht hinwollte. Doch wer weiss schon, was er wirklich will! Es zeigt sich in dem, was man tut. Bei seinen Recherchen, er ist Historiker, stösst er auch auf den weithin unbekannten japanischen Polarfahrer Nobu Shirase, auf dessen Spuren er sich macht.

Die Antarktis beginnt 500 Kilometer südlich von Neuseeland. Fin del Mundo nennt sich der Ausgangshafen Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, "die sich als ein ziemlich trauriger Sammelplatz für etwas zu reiche Senioren mit einem letzten Wunsch herausstellt." Wie wohltuend, dass da für einmal auf "Seniorinnen" verzichtet wird.

Dann folgt ein Kapitel, das mit "Monte Campana de Roldán, Chile" überschrieben ist, und von einem Kanonier aus Brügge sowie Magellans Tod handelt. Dann springt die Erzählung unvermittelt zurück in die Gegenwart. "Der Kontrast zur Expedition von Nobu Shirase könnte kaum grösser sein. Als die Japaner vor mehr als einem Jahrhundert auf dem eisbedeckten Kontinent einen nackten Granitfelsen sichteten, galt das als besondere Entdeckung. Sie liessen sich sogar mit dem Felsen fotografieren. Heute löst die kahle Felslandschaft der Südlichen Shetlands bei einer meiner Mitreisenden nur mässige Begeisterung aus. 'Ich werde hier keine Fotos machen', erklärt sie. 'Die kann ich denen zu Hause doch nicht zeigen. Die erwarten nur Schnee und Eis.'"

Dann erfolgt wiederum ein Abstecher in die Vergangenheit, zu den früheren Seefahrern Johann Reinhold Forster und James Cook. Frühere Entdeckungsreisen und die heutige von de Kluyver  abwechselnd zu präsentieren ist ein originelles und anregendes Konzept. Dazu kommt der sympathische Humor des Autors, der immer wieder durchscheint. 

Laufend offenbart Niemandsland Unerwartetes, auch natürlich, weil man über vieles noch gar nie nachgedacht hat. Zugegeben, ich rede von mir, halte mich jedoch nicht für eine Ausnahme. "Es gibt keine grösseren Leseratten als Polreisende." So hatte etwa Ernest Shackleton, der Kommandant der Endurance, die am 27. Oktober 1915 unterging, The Rime of the Ancient Mariner von Samuel Taylor Coleridge mit dabei; in Nobu Shirases Gepäck fanden sich die ins Japanisch übersetzten Reiseberichte von Ernest Shackleton.

Niemandsland ist eine Ansammlung von  Faszinierendem, Aufschlussreichem und allerlei Kuriosem. So erfährt man etwa, dass es auf Antarktika insgesamt siebenunddreissig Niederlassungen gibt, in denen sich das ganze Jahr über Wissenschaftler aufhalten. Auch die Faraday-Station gehört dazu, welche die Briten 1996 für einen symbolischen Betrag von einem Pfund an die Ukrainer verkauften. "Innerhalb der Station herrscht ein osteuropäisches Wohnzimmerklima. Trotz der milden Aussentemperatur von vier Grad im Sommer steht der Thermostat auf dreissig Grad."

Bei was auch immer der Mensch so treibt, gelten Gesetze, zumeist ungeschriebene. So erfährt man kaum jemals etwas über die Beziehungen innerhalb der Expeditionsgruppe. "Schon Roald Amundsen. Robert Falcon Scott und Ernest Shackleton wussten: Eine Expedition muss vor allem eine spannende Geschichte voller Entbehrungen und Erfolge liefern; damit konnte man Geld verdienen und neue Expeditionen finanzieren. Interne Streitigkeiten passen nicht in das Genre des abenteuerlichen Expeditionsberichts."

So recht eigentlich ist dies ein Buch der vielfältigsten Entdeckungen: Vom südlichsten Pub der Welt  zu Thaddeus Thaddewitsch Bellingshausens Forschungsfahrten im südlichen Eismeer 1819 - 1821, von Ursula K. Le Guins Sur (das Zitat aus diesem Buch lohnt allein die Lektüre von Niemandsland) zu Reflexionen über die Zeit und die Bedeutung des Menschen angesichts einer Landmasse, die seit Hunderten von Millionen Jahren existiert.

Barry Lopez hat einmal geschrieben, "Antarktika sei eigentlich eine Plattform, die im Weltraum über der Erde schwebe und den Planeten unter ihr im Auge behalte." Wie passend also, dass Niemandsland mit den Erfahrungen der Astronauten von Apollo 17 endet.

Niemandsland, ein sehr ansprechend gestalteter, hochformatiger Band, mit vielen überaus hilfreichen Karten und zahlreichen eindrucksvollen Schwarz/Weiss Fotografien, ist ein überaus inspirierendes Werk, das die eigene Entdeckerfreude anregt.

Adwin de Kluyver
Niemandsland
Eine antarktische Entdeckungsreise
mare, Hamburg 2024

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